Der Führer im SPIEGEL
Den Plan für diesen Artikel fasste ich im Februar 2012, als ich Georg Diez‘ umstrittenen Artikel „Die Methode Kracht“ im SPIEGEL Nr. 7/13.2.2012 las. Darin drückte dieser sein Unbehagen ob Christian Krachts neuen Romans „Imperium“ aus, indem er ihn als „Türsteher“ einer neuen Rechten bezeichnete. Er verwies auf die immer wieder in dessen Werk vorkommenden Tyrannen- und Faschistengestalten und schien diese Faszination für verdächtig zu halten.
In Gesprächen ließ ich mich zuvor oft zur Behauptung hinreißen, es gäbe keine SPIEGEL-Ausgabe, in der sich kein Bild Hitlers fände. Nun, wo ein Autor eben jenen Blattes dieses Interesse selbst zum Verdachtsmoment erklärt hatte, wollte ich einmal näher hinsehen.
Als das nächste Jahr des SPIEGELs begann, notierte ich mir also alle Nazi-Artikel. Großzügig nahm ich aus, wo diese aufgrund von Aktualität für ein Blatt zwingend notwendig waren, Neo-Nazis zählten zudem gar nicht. – Ich wollte möglichst nah an den Schreckensschnurrbart persönlich. Zitiert wird jeweils die Nennung im Inhaltsverzeichnis.
Nr. 1/31.12.2012
„Wer ist Anne Frank heute? Neue Bücher und ein Film versuchen eine Antwort“
- Tja, gleich die erste Nummer macht Probleme mit meinen Spielregeln! Die Themenwahl ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern anlässlich von Neuerscheinungen. Nehmen wir ihn trotzdem mal auf, da ja nicht jede Veröffentlichung extra einen solchen Artikel bekommt.
Nr. 4/21.1.2013
„Warum konnten so viele NS-Kriegsverbrecher unbehelligt in Südamerika untertauchen?“
Nr. 5/28.1.2013
„Das Nazi-Erbe in deutschen Museen“ (Titelstory)
Nr. 6/4.2.2013
„Die Nazis verschleppten Tausende ausländischer Kinder – bis heute wurden die Opfer nicht entschädigt“
Nr. 8/18.2.2013
„Wie Adolf Hitler als Soldat zum Rassisten und Demagogen wurde“ (S. 44)
Nr. 10/4.3.2013
„Turnierveranstalter Paul Schockemöhle benannte Reiterpreis nach einem SA-Obersturmbannführer“
+
„Wie Hermann Görings Bruder Albert Juden vor den Nazis rettete“
Nr. 11/11.3.2013
„Ausgräber unterm Hakenkreuz“
+
„Der Produzent Nico Hofmann erzählt im SPIEGEL-Gespräch, wie er im Dreiteiler ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ seine Familiengeschichte verarbeitet.
- Der erste Satz lautet „Woher kommt diese Faszination?“ und ist natürlich keinesfalls selbstreflexiv gemeint.
Nr. 13/25.3.2013
„20 Jahre Auslandseinsätze – das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee“
- Geschmückt mit einem Auschwitz-Bild, mag man streiten, ob der Artikel meine labbrigen Kriterien erfüllt, aber er ist ja nur Teil eines spektakulären Nazi-Gesamtpaketes:
+
„Der TV-Dreiteiler ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ wird die Erinnerungskultur der Deutschen verändern“
– Meine (rückblickend etwas milde) Kritik dazu gibt es hier.
+
„SPIEGEL-Gespräch mit dem Psychoanalytiker Hartmut Radebold über das Schweigen nach dem Schrecken und seine Kindheit im Dritten Reich“
+
„Heinz Otto Fausten kämpfte an der Ostfront – nach dem Krieg wollte sein Sohn Peter wissen, inwieweit der Vater sich schuldig gemacht hat“
Nr. 14/30.3.2013
„Der deutsche Schicksalskomponist Richard Wagner ein Genie im Größenwahn“ (Titelstory)
- Ja, bei diesem Thema ist die Erwähnung Hitlers unvermeidbar. Dass er aber mit zwei Bildern ebenso oft abgebildet wird, wie Wagner selbst, schien mir doch bemerkenswert.
Nr. 15/8.4.2013
„Wie die Kriegserfahrung der Eltern auch die nächste Generation prägt“
Nr. 16/15.4.2013
„Vor 80 Jahren musste Erich Kästner zusehen, wie seine Bücher von den Nazis verbrannt wurden“
Nr. 17/22.4.2013
„SPIEGEL-Gespräch mit dem Berliner Historiker Götz Aly über Euthanasie bei den Nazis und das Leben mit seiner behinderten Tochter“
Nr. 18/29.4.2013
„Ehemalige Nazi-Juristen machten Karriere im Bundestjustizministerium“
Nr. 20/13.5.2013
„Eine neue Beuys-Biografie beschreibt die Nähe des Jahrhundertkünstlers zu Alt-Nazis“
Nr. 22/27.5.2013
„Warum deutsche Ärzte einst die Reinheit des Blutes propagierten“
Nr. 32/5.8.2013
„Mit Napoleon begann das Zeitalter des modernen Politikers – und Diktators“ (Titelstory)
– Prächtiges Bildmaterial des späteren Stardiktators Hitler darf bei dem Thema natürlich nicht fehlen.
Nr. 36/2.9.2013
„Die Familie Ströher, ein Clan mit NS-Vergangenheit, will Suhrkamp retten“
Bundestagswahl 2013 SPEZIAL/25.9.2013
„Experten plädieren für eine Reform der Fünfprozenthürde“
- Das muss natürlich mit Bildern des großen Fehlschlags deutscher Demokratiegeschichte aufgepeppt werden.
Nr. 39/21.9.2013
„Ein Forscher dokumentiert Gräueltaten deutscher Bürger kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges“
Nr. 40/30.9.2013
„Fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende wird ein KZ-Wächter aus Auschwitz angeklagt.“
- Ja, hier liegt ein voll und ganz berechtigter aktueller Anlass für den Artikel vor. Dennoch nehme ich ihn mit auf, da es hier ja um die Faszination für die Nazis geht und dass man den Bericht mit saftig-schrecklichen Details aus Auschwitz beginnt, sehe ich dann doch als Zeichen für eine gewisse Lust am Grauen.
Nr. 41/7.10.2013
„SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Volker Ullbrich über seine Hitler-Biografie“
Nr. 42/14.10.2013
„Wie die Dänen 1943 fast ihre gesamte jüdische Bevölkerung vor der Deportation bewahrten“
- Was denn? Eine erbauliche Geschichte, dass es auch Gutes im Menschen gibt? Na schön, aber das dekorieren wir natürlich gleich mit Bildern Heydrichs und Himmlers, um die Schurkenpräsenz trotzdem hoch zu halten.
Nr. 43/21.10.2013
„New York ehrt die deutsche Bildhauerin Isa Genzken, deren Werke die Tragik ihres Lebens spiegeln“
- Zu dieser Tragik gehört auch ein NS-Arzt als Opa, der darum dekorativ vor Gericht gezeigt werden kann.
Nr. 45/4.11.2013
„Die bislang unbekannten Berichte ausländischer Diplomaten zum November-Pogrom 1938“
+
„Wie die SS-Führung den Sport im ‚Dritten Reich‘ missbrauchte“
- Inklusive eines Bildes Himmlers beim Kugelstoßen.
+
„Der Folterknecht in uns – die Lehren aus dem Milgram-Experiment“
- …lauten, dass man das Thema gut mit einem Foto Eichmanns in Jerusalem schmücken kann.
Nr. 46/11.11.2013
„Das Rätsel und der Streit um den Sensationsfund von München“
- Auch beim Bericht, über die umstrittene Gurlitt-Sammlung passt ein natürlich noch ein Bild von Onkel Adi ins Layout.
So, damit hätten wir dann also 32 Nazistorys im Laufe eines Jahres. Einige, die ich aufgenommen habe, sind zweifellos durch aktuelle Ereignisse wie Bucherscheinungen zum Thema gerechtfertigt, viele von ihnen auch tatsächlich recht interessant.
Ist das viel? Wie hoch ist die Durchschnittsnaziquote in der deutschen Presse?
Meiner bescheidenen und unwissenschaftlichen Interpretation nach, scheint sich hier doch ein gewisses Interesse am Thema nicht ganz verleugnen zu lassen. Macht das den SPIEGEL zu einem zweiten Kracht? Macht das Georg Diez zu einem fragwürdigen Literaturkritiker?
Was, und ob man aus dieser Auflistung macht, sei jedem selbst überlassen.
Der nächste Jahrgang begann heute übrigens mit dem 1. Weltkrieg als Titelthema – dabei eine DVD, die natürlich wessen Erlebnisse in demselben behandelt? Genau.
(Dirk M. Jürgens)
Marcus Heine
4. Januar 2014 @ 19:25
Passt schon, das bildest du dir nicht nur ein.
Der Spiegel hat so durchschnittlich 2-4 Wochen im Jahr, wo ihm so wenig Neues einfällt, dass sie einen ihrer „Oppa erzählt vom Krieg“-Artikel sogar auf die Titelseite nehmen. Immer, wenn ich auch nur aus dem Augenwinkel am Kiosk ein in Spiegel-Orange eingerahmtes Schwarzweißfoto sehe, denke ich nur „ach, is mal wieder soweit“ und ignorier das dann.