„Die unvermeidbare Rückkehr von Wan Hu“ von Sebastian Kempke
Drei Freunde machen sich auf die Suche nach einer Weihnachts-geschichte für den Schulunterricht und treffen dabei auf Wan Hu, den mumifizierten Mandarin aus dem Weltenall. Plötzlich steht nicht nur die Deutschnote auf dem Spiel sondern auch das Schicksal der Welt und der Weihnacht. Nur mit vereinter Kraft kann das Gute siegen . (Copyright 2003)
Dunkel erhoben sich die Gebäude der Stadt
in den grauschwarzen Nachthimmel und blickten weit hinaus auf die grüne, salzige See. Schwarz war die Unendlichkeit des Firmaments. Grau waren die Wolken, die sich in langen, verworfenen Bildern über der Stadt verwoben, eingefaßt vom kalten Silberlicht der Sterne und vom eisigen Schein des Mondes. Aus weiter Ferne erleuchtete er die Wolkenbänder zu einem gigantischen Strudel, der zwischen den steinernen Schluchten der Stadt wurzelte und von dort aus gleißend in den Himmel wuchs, immer weiter, immer größer, bis er in allen Himmelsrichtungen den Horizont erreichte, seine Form im ewigen Kalt der Winternacht gefroren. Inmitten dieses erstarrten Zyklons geschah, ungehört von den blinden Geistern der Winternacht, etwas vollkommen Unerwartetes. Erschaffen durch den unverständlichen Atem der Dunkelheit, geboren aus den kalten Alpträumen kosmischer Leere, sank es langsam hinab in die Sphären unserer Welt.Das Signalfeuer des Leuchtturms, der weit vor der Stadt auf der entlegenen Seite der Bucht errichtet worden war, pulsierte lautlos und regelmäßig.
Mit der Morgensonne zog im Hafen der Stadt dichter Nebel auf, der formlos dem ruhenden Meer entstieg und wie ein Phantom durch die winkeligen Gassen des Hafens zog, um sich dann langsam in Wirbeln und Schleifen um die nahen Wolkenkratzer des Stadtkerns zu legen. Nach einigen Minuten begannen die hohen Gebäude im Sonnenlicht zu leuchten und mit ihnen der Nebel, der sie umgab. Für einige Augenblicke verschwammen Nebel und Stadt zu einem einzigen Glühen, das schimmernd und unwirklich aus dem Meer über das Ufer hing und nach dem Himmel reichte, wie ein riesenhafter Krake eines fernen Zeitalters, der phosphoreszierend und dampfend aus den Tiefen des Ozeans emporgestiegen war und dessen sterbende Tentakel mit letzter Kraft den Mond zu greifen suchten.
Die Sonne war über dem Meer und der Stadt aufgegangen. Das Glühen war verschwunden und langsam begannen auch die Nebel, sich aufzulösen. Die bleiche Sichel des Mondes war vor dem fahlen Blau des Himmels und hinter dem transparenten Weiß der Wolkenstreifen kaum noch auszumachen und so zog er weiter seiner Bahn, passiert von Möwen und Schwalben, erwacht zu früher Stunde, einen neuen Tag zu begehen.***
„Du kannst ihnen jeden Käse vorsetzen, und sie werden es lesen, irgendein Geschwafel über die intrakulturellen Höflichkeitsfloskeln nordelbischer Fischer zur Zeit des dreißigjährigen Krieges oder irgendeins von diesen undankbaren Krimiversatzstücken mit hanebüchener Handlung, niemand wird sich jemals darüber beschweren, aber wenn du mal ne wirklich neue Idee hast, wirklich inspirationsmäßigen Zündstoff, dann bist hier im falschen Film, das sag ich dir.“
Vincent fuchtelte wild mit den Armen, um seine Ausführungen auf angemessene Weise zu dramatisieren.
„Ich meine, irgend jemand wird sich immer für deinen Kram interessieren, ich wollte jetzt nicht sagen, daß das künstlerische Leben völlig perspektivenlos ist, aber am besten geht man davon aus, daß die Leute, die man am liebsten beeindrucken möchte, deine Arbeit für völligen Mist halten, wenn du weißt was ich meine.“ Vincent machte eine bedeutungsvolle Pause und seufzte auf eine Weise, die ein depressives Faultier hätte erkennen lassen, wie sehr es mit sich selbst zufrieden war und wie schlecht es doch anderen ging, und daß es doch eigentlich gar nicht so kompliziert war, sich in normalem Tempo durch die Baumwipfel zu bewegen.
Vincent war der Modellfall eines leidenden Künstlers. Das einzige, was Vincent aufheitern konnte, war Anerkennung oder ein Videoabend mit seinen besten Freunden Kevin und Tobi.
Jetzt war es Samstag, halb zehn am Vormittag, der Videoabend war vorbei und Trübsal hatte sich erneut in sein Leben geschlichen.
„Ich für meinen Teil habe mir schon ne abgefahrene Geschichte ausgedacht…“, verkündete Kevin und holte tief Luft, “… eine Geschichte, die von einem Wissenschaftler handelt, der eine Zeitmaschine konstruiert, und er… na ja… versucht herauszufinden, warum er den Spaß an Weihnachten verloren hat… irgendwann reist er an den Punkt seiner Vergangenheit zurück an dem ihm ein schwerer Schicksalsschlag das Weihnachtsfest verdarb. Er nimmt sich selbst mit auf eine Reise weiter in die Vergangenheit, wo sie ihr früheres Ich besuchen, das noch glücklich Weihnachten mit seiner Familie feiert. Dort lernen sie, Weihnachten wieder schätzen zu lernen, und in dem Moment, wo sie ihre Geschenke auspacken, BANG, bricht das verdammte Raum-Zeit-Gefüge in sich zusammen und vernichtet alles… bis auf den Weihnachtsmann, der war nämlich gerade auf dem Heimweg, und jetzt treibt er ziellos durchs Weltall und wird langsam aber sicher verrückt.“
„Haha, ja, das wär‘s doch,“ grinste Vincent bitter. „Hat auch gute Fortsetzungsqualitäten, echt…!“
„Genau. Der verrückte Weihnachtsmann gelangt durch ein Wurmdings in unsere Dimension und jetzt muß sich unser Weihnachtsmann ihm entgegenstellen…“
Nach zehn weiteren Metern erreichten sie die schmale Seitengasse, in der sich ihre favorisierte Videothek verbarg. Die Drei wurden gleichsam magisch angezogen durch den warmen, popcorngetränkten Ereignishorizont von „Larrys Videoparadies“.
Es war immer ein besonderes Ereignis für die drei Freunde, sich auf den Weg zur Videothek zu machen. Schon die Antizipation des Durchstöberns mehr oder weniger interessanter Direct-to-Video-Premieren regte sie zu geistreichen Gesprächen vielerlei Art an. Meistens diskutierten sie darüber, welche Filmideen ihnen zur Zeit durch den Kopf geisterten und wie sie am einfachsten umzusetzen wären, ohne sich dafür in die Abgründe des Kunst- oder Kommerzkinos zu stürzen. Und sie diskutierten darüber, wie die Chancen standen, daß bei der nächsten Enthüllung abstrakter Kunst die Kunstwerke auf blutigste Weise gegen ihre Sponsoren aus den staatlichen Gremien aufbegehren würden. Die Chancen standen gut.
In der Videothek war kaum etwas los. Ein paar Kinder diskutierten in der Videospielecke miteinander, und irgend jemand war gerade durch den schweren Samtvorhang in die Pornoabteilung gegangen.
Tobi, Kevin und Vincent schlenderten zum Tresen und grüßten höflich die junge Angestellte, die nur ein paar Jahre älter war als sie selbst. Sie hatte strohblondes Haar und frisierte es auf eine Weise, die nicht daran zweifeln ließ, daß sie nicht nur klug war, sondern auch einen besonderen Geschmack und Stil ihr Eigen nannte. Heute trug sie ein himmelblaues T-Shirt mit dem Bild einer lachenden Roboterkatze. Beide grinsten die Schüler strahlend an, während sie die entliehenen Filme entgegennahmen.
„Was glaubt ihr, warum er immer wieder zurückkommt?“, sie blinzelte die Drei geheimnisvoll an.
Kevin und Vincent sahen sich grübelnd an. Sie hatten noch keine zufriedenstellende Theorie aufgestellt.
„Na, weil er das pure Böse verkörpert. Er verkörpert den Willen, Rache zu nehmen, an allen, die ihm über den Weg laufen, vielleicht an der gesamten Menschheit. Das ist seine Mission. Für manche ist er der Racheengel per se. Wenn auf der Welt so viel Übles passiert, dann, wißt ihr, dann sammeln sich Kräfte, die dem Bösen entgegenwirken. Gleichzeitig kann es aber auch passieren, daß sich die bösartigen Kräfte selbst sammeln, und etwas gewaltiges Böses erschaffen, welches nicht vernichtet werden kann. Es sei denn, die Menschheit bessert sich und die Welt wird zu einem Ort der Harmonie und Gleichberechtigung… und deswegen wird er weiter töten.“
Tobi kratze sich an seinem rechten Ohr.
„Du meinst so ähnlich wie Gamera, nur böse?“, fragte er.
„Genau, ich glaub die beiden haben mehr gemeinsam als man so denkt.“ Sie legte nachdenklich ihre Stirn in unsichtbare Falten, dann blickte sie wieder zu ihrer Kundschaft.
„Und, wollt ihr noch was ausleihen? Ich glaube, wir haben noch was, was euch ebenfalls begeistern wird, ohne Hockeymaske, dafür mit Robotern.“
„Mann,“ seufzte Vincent, „das klingt echt gut, aber wir haben uns vorgenommen, Weihnachtsgeschichten zu schreiben…“
Die junge Angestellte hob die Augenbrauen. „Aha, ein werkwütiges Wochenende.“
„Genau. Aber irgendwie hakt‘s mit der Inspiration…“, sagte Vincent und schob seine Hände tiefer in die Jackentaschen. Er sah sie traurig an. „Was würdest du sagen, was sollen wir tun? Woher bekommt man eine richtig gute Weihnachtsgeschichte?“
„Hmmm,“ überlegte sie. „Ihr braucht eine Weihnachtsgeschichte? Ich sag euch mal was, wenn ihr eine richtig authentische Weihnachtsgeschichte haben wollt, dann geht ihr vor die Tür, und dann folgt ihr dem ersten weihnachtlichen Ereignis, daß sich euch bietet. Das funktioniert immer.“
„Willst du uns loswerden?“
„Nein, das meine ich ernst. Haltet die Augen auf und hängt euch rein. Weihnachten findet ihr dort, wo ihr es sucht! Einfach machen.“
Sie strahlte die Drei weise an, und tatsächlich hatten alle drei kurz darauf das Gefühl, daß der Vorschlag nicht nur durch Plausibilität bestach sondern ebenso durch einen Hauch von Abenteuer. Dieser lockte sie nach kurzem Abschied auf ein Neues hinaus in die Kälte.Zunächst waren sich Vincent, Tobi und Kevin uneinig, was genau ein angemessenes weihnachtliches Ereignis war. Zunächst liefen sie hinter einem bunten Lastwagen her, der mit einem überdimensionalen Weihnachtsmann beklebt war. Nach kurzer Zeit war ihnen klar, daß das nicht nur unweihnachtlich sondern auch hoffnungslos war, denn derartig geschmückte Lastwagen waren in den Adventswochen nicht gerade selten zu beobachten. Was also war ein wirklich weihnachtliches Ereignis? Eine alte Dame, die einem Obdachlosen Geld und Hoffnung spendet? Kleine Kinder die ihre Stiefel zum Supermarkt tragen, um sie zum Nikolaustag auffüllen zu lassen? Der Erwerb einer Coca Cola Flasche? Nein. Das konnte nicht alles sein. Das durfte nicht alles sein.
Dann tatsächlich, in einem Augenblick als die Drei die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten und zu einer Stunde, da der Mittag schon in den Nachmittag und der Nachmittag in den Abend ausgeklungen war, erblickte Vincent etwas, das sie mitten ins Abenteuer führen sollte.
„Ich glaub mich tritt ein Pferd, ne Schneeflocke!“, schrie Vincent und zeigte zitternd auf das zarte, weiße Gebilde, das wortlos vor ihnen in der Luft schwebte, getragen von dem kühlen Wind, der nur wenige Minuten zuvor eingesetzt hatte.
´“Los, hinterher, wenn die nicht weihnachtlich ist, was dann?“ rief Kevin. Ohne das Flöckchen aus den Augen zu lassen, folgten sie ihm langsam die Straße hinunter, vorbei an weihnachtlich dekorierten Geschäften mit festlicher Beleuchtung, an Obdachlosen, die Coca Cola tranken und an Supermärkten, in denen gestreßte Elternpaare ältere Damen anrempelten, um rechtzeitig die blankgeputzten Stiefelchen ihrer Kinder abzugeben.
Sie folgten dem Flöckchen weit hinaus aus der Stadt, über Straßenkreuzungen und vorbei an Kirchen, vorüber an eisbezapften Eisenbahnbrücken über die dampfende Dieselloks stampften, schwarzgelbgestreift hinaus in die Abenddämmerung. Und dann, nach fast einer halben Stunde, hatten sie den Stadtrand erreicht.Das Umland lag vor ihnen wie ein graugrünes Meer aus Mischwäldern, kahlen Feldern und buckeligen Knicks, allesamt umfangen von der Dunkelheit der anbrechenden Nacht. Vincent, Tobi und Kevin standen am Ortsschild, das von der letzten, verwaisten Straßenlaterne der Stadt erleuchtet wurde. Außerhalb des Lichtkegels versank das Land in Dunkelheit. Nichts war zu hören, außer dem kalten Wind, der das Flöckchen mit leichten Stößen bis an den Rand der Stadt getrieben hatte. Und der Wind verstummte.
Das Schneeflöckchen, das einige Meter über Vincents Kopf vorüberschwebte, begann langsam nach unten zu sinken.
„Ich glaube dem Flöckchen ist der Saft ausgegangen.“, scherzte Kevin. Tobi und Vincent sahen sich schweigend um.
„Was meint ihr, was uns das Flöckchen damit sagen wollte?“, fragte Tobi, während er seine kalte Nase rieb. Vincent zuckte nachdenklich mit den Schultern und blickte sich suchend um. Die Schneeflocke sank tiefer hinab, bis sie vor Kevins Gesicht angekommen war.
„Ich glaube das Flöckchen will uns wirklich etwas sagen.“ Kevin stierte hypnotisiert auf den lichtumsäumten Eiskristall, der funkelnd vor seinen Augen tanzte. Er öffnete den Mund und steckte seine Zunge heraus. Die Schneeflocke landete auf seiner Zunge und bevor sie Gelegenheit bekam, zu schmelzen, hatte Kevin sie hinuntergeschluckt. Er schloß die Augen, nur um sie dann wieder zu öffnen und seinen Freunden im mattgelben Licht der Straßenlaterne einen hypnotisierenden Blick zuzuwerfen. Das heißt, seine Augen konnte man nicht sehen, denn sie waren von schwarzen Schatten verdeckt.
„Das Flöckchen möchte, daß wir warten.“Und so warteten sie für einige Minuten. Tobi und Vincent hatten ein wenig Abstand von ihrem Freund genommen, der nun auf einem Kilometerstein saß und mit geöffnetem Mund in den Himmel starrte. Sein kondensierender Atem stieg schnurgerade aus seinem Hals in die Dunkelheit, als ob das Schneeflöckchen zurück in den Himmel kehren würde, zurück in höhere Sphären, wahrscheinlich in diejenigen, aus denen Kevin seit einigen Minuten seltsame Worte diktiert wurden, die er mit aufgerissenem Mund unverständlich vor sich hinbrabbelte.
Tobi kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Ich hab ja gehört, daß es ungesund sein soll, Schnee zu schlucken, aber dann muß das Flöckchen wirklich verdammt schmutzig gewesen sein.“
„Sieh mal, jetzt macht er irgendwas.“, sagte Vincent und sah vorsichtig über Tobis Schulter zu Kevin hinüber.
„Etwas weihnachtliches?“, fragte Tobi und drehte sich ebenfalls zu Kevin um, der zu Tobis Entsetzen direkt vor ihm stand und ihn anstarrte.
„Nun kommt er!“, sagte Kevin mit weit aufgerissenen Augen.
Im selben Moment blendete sie ein gleißendes Licht. Durch die Wolkendecke hindurch stürzte ein flammenspuckender Feuerball, der glühend über die dunkle Landschaft hinwegraste. Auf seinem Weg erhellte er lautlos und unheimlich die Wälder unter ihm. Die drei Freunde beobachteten das unwirkliche Ereignis für einige Sekunden, bis der Feuerball mit einem lauten Donnern in einem nahen Wäldchen einschlug und von ihm nichts mehr zu sehen war, außer einem seltsamen bläulichen Schimmer, der zwischen den schwarzen Bäumen in der Ferne hin und herwanderte.
„Wir sollen dem Stern folgen, nehme ich an?“, fragte Tobi, nachdem er es endlich geschafft hatte, seinen panischen Gesichtsausdruck aufzutauen. Er sah Kevin fragend an.
Kevin sah seine Freunde fragend an. Tobi schüttelte seufzend seinen Kopf und machte den ersten Schritt über den Stadtrand hinaus.
„Ich schätze, es ist das weihnachtlichste, was man in so einer Situation tun kann, oder?“Die kahlen Bäume des Wäldchens standen wie Scherenschnitte vor dem blauen Schein, den der Meteor ausstrahlte. Während sie den Wald betraten, konnten die drei Freunde nichts weiter erkennen, als den mächtigen Rand eines Kraters, aus dem ein blaugrünlicher Dunst aufstieg. Tobi und Vincent hatten mit dem mühsamen Aufstieg zu kämpfen, während Kevin steif wie ein Brett den Wall verbrannter, heißer Erde bestieg. Tobi blickte stöhnend zurück. Seitenstiche zwangen ihn zu einer kurzen Pause. Er atmete schwer und beobachtete seinen Atem hellblau vor sich in der nächtlichen Waldluft kondensieren. Dann sah er den Hügel hinab. Auch die Bäume wurden von dieser Seite aus hellblau erleuchtet und warfen lange schwarze Schatten in den dunklen Landstrich, der sich zwischen dem Wäldchen und der Stadt erstreckte. Er blickte wieder zu Vincent und Kevin, die mittlerweile den Rand des Kraters erreicht hatten und in den leuchtenden Abgrund starrten. Die letzten Meter erschienen Tobi unendlich lang. Was würde er sehen? Was war der Fixpunkt, um den das Panoptikum der seltsamen Ereignisse kreiste, deren Zeuge er in den letzten Stunden geworden war? Was nur? Er konnte es sich nicht ausmalen. Und dann erreichte er den Rand des Kraters, und er sah hinab, und dann, nachdem sich seine Augen an des geisterhafte Licht furchtbarster Frequenz gewöhnt hatten, verschlug ihm das, was er inmitten jenes unheiligen Kraters sah, die Sprache, beraubte ihn jedes Gedanken, den er zu formulieren suchte.
In der Tiefe, durch kosmische Kraft hinabgeschraubt in den steinigen Waldboden, war der Meteor in zwei Hälften gebrochen und gab den Blick frei auf den funkelnden Hohlraum im Inneren, und in diesem Saal aus geschmolzenem Gestein thronte eine beinahe menschliche Gestalt auf einem Gegenstand, der fast aussah, wie ein massiver Holzstuhl.
Tobi kniff die Augen zusammen. Es war wirklich ein massiver Holzstuhl, und das was auf ihm saß, war ein skelettierter Mensch, gekleidet in helle, weitgeschnittene Kleidung. Das blaue Leuchten, daß ihn umgab, wurde heller. Er sah zu Vincent, der sprachlos in die Tiefe starrte.
„Was zur Hölle ist das?“, rief Tobi.
„Sieht aus wie ein mumifizierter Mandarin…“, schlug Vincent zögernd vor.
Im selben Augenblick wurden sie von einer explosionsartigen Druckwelle vom Rand des Kraters geschleudert und schlugen hart auf dem naßkalten Waldboden auf. Tobi versuchte sich aufzurichten, aber der Aufstieg hatte seine ganze Kraft verbraucht. Das Ding im Krater hatte sie förmlich aus ihm herausgesaugt. Er sah erschrocken auf. Vincent und Kevin lagen einige Meter von ihm entfernt. Aus dem Krater stoben strahlende Blitze, die die umliegenden Bäume in Brand setzten, und dann erhob sich aus dem Krater die unheimliche Gestalt, langsam emporschwebend, von Blitzen eingefaßt. Sie schwebte aus dem Krater heraus und setzte auf dem Waldboden auf, etwa zehn Meter entfernt von den drei Freunden, die sich kraftlos auf dem Boden wanden.
Der mumifizierte Mandarin klammerte sich an die Lehnen seines Holzstuhls, auf dem er gerade aus dem Krater geschwebt war. Er blickte sie mit leeren Augenhöhlen an. In ihnen wuchs ein rotes Glühen, das dem Mandarin zunehmend aus dem Kopf dampfte, bis er langsam seinen Mund öffnete und mit tiefer, grollender Stimme fragte…
„Nimen shi sheeeei aaaaa?“
Er sah sie mit einem lodernden Blick an, der betonte, daß seine Geduld schnell erschöpfen würde. Tobi zischte unruhig zu seinen Freunden hinüber.
„Hat einer von euch verstanden, was er gesagt hat?“
Die Gestalt erhob sich von ihrem Stuhl. Zwischen beiden wanderten knisternde Lichtblitze auf und ab.
„Ni shuo de you shenme yisi?“
„Hast du gesehen? Hast du das gesehen?“ Vincent schien völlig außer sich zu sein.
„Wovon redest du?“, rief Tobi zurück.
„Sieh ihn dir an, wenn er was sagt, unfaßbar!!!“
„Meinst du die Flammen, die aus seinem Mund schlagen?“
„Nein, ich meine die Untertitel!“
Tobi hob seine rechte Augenbraue höher als den meisten Menschen möglich. Er stützte sich auf seine Hände und sah zu dem flammenden Fremden hinüber, der über das Privatgespräch der beiden Heranwachsenden sichtlich aufgewühlt zu sein schien. Er stand in einiger Entfernung und sah die Beiden ebenso verwirrt an, wie sie ihn.
„Ni shuo de, xianzai… xianzai keyi liaojie… zhen qiguai a!“
Unterhalb seiner Knie formten sich lateinische Buchstaben scheinbar aus dem Nichts. Sie bildeten den Satz „Was ihr sagt, nun… nun kann ich verstehen… wirklich seltsam!“. Nachdem Tobi den Satz ausgelesen hatte, lösten sich die Buchstaben lautlos wieder auf.
Er stand ächzend auf und sah zu Vincent hinüber.
„Hast du das gesehen?“, fragte Vincent lachend.
Unter ihm setzten sich zu seiner Überraschung formvollendete chinesische Schriftzeichen zusammen. Als sie sich auflösten, sahen sie zu der geisterhaften Gestalt hinüber, die gerade etwas gesagt hatte, was sie nicht verstanden hatten.
Klare weiße Buchstaben leuchteten unter ihr auf.
„Achtung, hinter euch!“
Vincent und Tobi sahen sich gegenseitig an, und dann drehten sie sich langsam und vorsichtig um. Hinter ihnen stand Kevin. Sein Blick blitzte mit einem weißen Leuchten, dessen Anblick ihnen in den Augen schmerzte. Seine Kleidung und Haare wehten und wallten, als stünde er auf einem Lüftungsgitter. Um ihn wirbelten vertrocknete Blätter und ein unglückliches Eichhörnchen. Und er grinste diabolisch, den Blick auf den brennenden Beamten aus dem mysteriösen Meteor gerichtet, der seinerseits Kevin gelassen musterte. Tobi blickte wieder zu Vincent und Vincent zu Tobi. Sie wußten beide, was jetzt passieren würde.Beide, der Mandarin aus dem Meteor und der durch fremde Mächte kontrollierte Kevin, stürzten sich aufeinander, ihnen folgend der Wind, die Blitze und das blaue Feuer. Sie entfachten ein atemberaubendes Duell, ihre Bühne der Wald und der Himmel darüber, befreit von den Fesseln menschlicher Möglichkeit. Schwerelos stiegen sie auf in das blätterlose Geäst der Bäume, lautlos glitten sie wieder zu Boden, die Technik ihres Gegenüber studierend. Geschmeidige Bewegungen parierten donnernde Faustschläge und sanften Gesten wichen mächtige Tritte. Keine Bewegung glich der vorangegangen, und nach einiger Zeit begannen auch die Kämpfer scheinbar ihre Gestalt zu wandeln. Für einen Augenblick stand anstelle des Fremden ein Tiger mit fürchterlichen Krallen und gefletschten Zähnen, dann ein Bär, der zu einem mächtigen Schlag mit beiden Tatzen ausholte. Ihm wich ein goldener Phönix aus, der sich in einer lautlosen Drehung auflöste und in einen Drachen verwandelte, der fauchend in die Bäume aufstieg.
Als Tobi ihn mit seinem nervösen Blick fixiert hatte, sah er, daß es wieder Kevin war, der hoch oben auf einem wippenden Ast stand und mit einem genügsamen Grinsen, wehenden Haaren und leuchtenden Augen zu dem Fremden hinuntersah. Der Fremde wiederum ballte die Fäuste. Rote Flammen schlugen aus seinem versengten Kragen und trugen seinen zornigen Schädel.
So standen sie sich gegenüber, sich mit unbeugsamen Blicken durchbohrend, während sich langsam der Staub legte. Tobi und Vincent hatten sich in angemessener Entfernung hinter einem alten Baum versteckt und beobachteten schweigend das Geschehen. Nach einem Moment ergriff Kevin das Wort. Seine Stimme klang fest, entschlossen und erwachsen. Er sprach dieselbe Sprache wie der Fremde, ausreichend prosaisch untertitelt.
„Deine Technik verrät dich, denn im Kampfe zeigt sich deine wahre Herkunft. Du bist nicht Wan Hu, der zu den Sternen reiste. Du bist ein Verlorener aus den luftleeren Zwischenräumen des Weltenalls. Du bist ein Geist des Vakuums.“
Der Fremde ballte erneut die feurige Faust und dann zeigte er mit ausgestrecktem Finger auf Kevin. Seine Stimme loderte in der kalten Nachtluft.
„Ich weiß nicht wovon ihr sprecht. Und wer seid ihr, der ihr euch hinter einem Kind versteckt? Gebt euch zu erkennen, und vielleicht werde ich euch verschonen.“
„Ich bin Li, der die Gestalt wandelt und mit den Drachen durch das Meer der Wolken zieht, Meister von zweiundsiebzig Wandlungsstilen. Ich jage Geister, die gegen die Gesetze des Himmel verstoßen und das Gleichgewicht der zehntausend Dinge stören.“
Der Fremde brach in ein fürchterliches Gelächter aus.
„Ein Gesetzloser bin ich also? Ihr müßt euch irren, denn soweit ich es weiß, war ich stets Wan Hu. Ich erinnere mich an keinen anderen Namen als den Namen Wan Hus“
Kevins Augen blitzen auf.
„Es ist nicht rechtens. Ihr seid Wan Hu und dennoch seid ihr es nicht. Ihr seid besessen von einem Geist des luftleeren Raums, aber euch dessen nicht bewußt. Der Geist, der euch verändert, kann noch nicht lange in euch sein. Er breitet sich langsam aus, wie eine Krankheit. Vielleicht ist es nicht zu spät…“
„Was meint ihr damit, Li, der die Gestalt wandelt und mit den Drachen durch das Meer der Wolken zieht? Wofür ist es nicht zu spät?“
„Werter Wan Hu, ihr könnt den Geist der Leere zu einem Rückzug zwingen, wenn ihr euch eurer selbst bewußt werdet.“
„Ihr sagt, ich muß mir meiner selbst bewußt werden. Was meint ihr damit?“
„Ihr müßt den Weg gehen, um euch eurer selbst bewußt zu werden. Damit meine ich, daß ihr euch eurer menschlichen Wurzel bewußt werden müßt, damit der Geist die Flucht ergreift. Entsinnt euch der Dinge, die euch zu einem Menschen machen, der guten Dinge, die das Leben auf dieser Welt lebenswert machen. Dann kann der Geist, der die Leere sucht, vernichtet werden. Füllt euer Herz mit Menschlichkeit.“
Das geisterhafte Gesicht des Fremden schien sich in Trauer zu verzerren.
„Es ist so schwer, sich derlei Dinge zu entsinnen. Ich fürchte es gelingt mir nicht rechtzeitig, denn ich spüre bereits, wie die Leere in mir sich weitet und dehnt. Könnt ihr mir nicht helfen, werter Li?“
Kevin landetet mit einem gekonnten Sprung zwischen Wan Hu und seinen beiden Freunden, die sich immer noch hinter dem Baum versteckten. Er sah auf und blickte Wan Hu an.
„Tatsächlich gibt es einen Weg, eine Tradition, die in diesem Teil der Menschenwelt hoch geschätzt wird. Ein Festtag, der seit vielen Jahrhunderten von den Menschen hier gefeiert wird. Sie wissen um ein großes Geheimnis, daß dir helfen kann. Ich werde sie an deiner Stelle bitten, dir dabei zu helfen. Warte einen Moment.“
Vincent und Tobi sahen sich das erste Mal seit zwanzig Minuten wieder stutzend an, während Kevin auf sie zustiefelte. Bald stand er vor ihnen und mit einem Blitz, der aus seinen Augen fuhr und neben ihm auf dem Waldboden einschlug, war er wieder der alte. Dafür materialisierte sich neben ihm eine durchsichtige Erscheinung. Es war der Geist des meisterhaften Kämpfers Li. Kevin und Li sahen sich an und dann sah Kevin seine Freunde an.
„Wow, das war ein Erlebnis. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren! Wir müssen Wan Hu wieder in Form bringen!“, sagte er mit einer entschlossenen Handbewegung.
„Wie machen wir das?“, fragte Tobi.
„Was können wir tun?“, fragte Vincent.
„Seht mir einfach zu, und dann werdet ihr schon wissen, was ihr zu tun habt! Deinen Rucksack, Vincento!“
Vincent gab ihm seinen Rucksack. Kevin öffnete den Reißverschluß und zog etwas Kantiges hervor.
„Alles was wir brauchen ist,“ verkündete Kevin feierlich, „ein gutes Buch!“
Er hob das Buch in die Höhe. Es war Charles Dickens Weihnachtslied.Vincent und Tobi begannen beide zu lachen. Nicht weil sie Kevin für übergeschnappt hielten, sondern weil sie seinen Plan verstanden hatten. Es war ein großartiger Plan.
Aber war noch genug Zeit, um Wan Hu zu retten? Es galt, keine Minute zu verlieren..
Kevin stellte sich zwischen Vincent und Tobi. Vor ihnen stand Li und musterte sie prüfend. Seine entschlossene Haltung und sein nobler Blick stärkten den Entschluß der drei Freunde, Wan Hu zu helfen, nicht unbedeutend. Was für ein Held!
„Ich übertrage euch die Macht der körperlichen Wandlung!“
Mit einer Kombination magischer Handbewegungen übertrug Li, der die Gestalt wandelte und mit den Drachen durch das Meer der Wolken zog, den drei Freunden die Kraft, daß auch sie auf magische Weise ihre Gestalt würden wandeln können. Und genau das taten sie auch, denn sie wußten was zu tun war. Schließlich war Weihnachten.Mit einem magischen Leuchten und zartem Glockenklang verwandelte sich Vincent mit einer dramatischen Handbewegung in eine kleine, leuchtende Gestalt, die unwirklich in der klaren Waldluft flimmerte. Ein kleines Kind, oder war es doch ein alter Mann mit weichen Gesichtszügen? Auf seinem Kopf funkelten weiße Haaren wie kalter Schnee, und über dem Scheitel züngelte eine Flamme gleißenden Lichts. In der rechten Hand trug das Wesen einen grünen Stechpalmenzweig mit einigen roten Beeren daran, die im Glanze funkelten wie Christbaumkugeln. Die Gestalt hob schelmisch eine Augenbraue und sah zu Kevin hinüber.
Kevin verwandelte sich in eine große Gestalt. Einen stämmigen, bärtigen Mann mit funkelnden Augen und verschmitztem Lächeln auf den Lippen. Er trug nichts außer einem legeren, dunkelgrünen Gewand, das mit weißem Pelz gesäumt war. Seine lockigen braunen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er zu seinem Gürtel hinabsah. Dort erschien aus dem Nichts eine Degenscheide, aber es war kein Degen darin und sie war von rotbraunem Rost bedeckt. Auf seinem Kopf erschien ein grüner Stechpalmenkranz, verziert mit kühlen Eiszapfen. Er lächelte zufrieden nach Gürtel und Palmenkranz und sah dann zu Tobi hinüber.
Tobi verwandelte sich mit einem grünen, blauen und roten Leuchten. Zunächst schien es so, als hätte er sich in Luft aufgelöst, tatsächlich aber war es so, daß er vor der dunklen Borke des Baumes hinter ihm kaum zu erkennen war. Er hatte sich in eine große Gestalt verwandelt, die gänzlich in ein langes, schwarzes Gewand gekleidet war, der Kopf von einer schwarzen Kapuze verhangen. Ihr Anblick versetzte selbst den tapferen Li in ein feierliches Grauen, jedesmal wenn es ihm gelang, ihren faltenzerworfenen Umriß vor dem Schwarz der Nacht und der Bäume auszumachen. Die Gestalt bewegte sich nicht und sie sagte kein Wort. Sie hüllte sich in Grabesstille.
Voller Ehrfurcht sah Li die drei Gestalten vor sich stehen. Dann machte er sich bereit, ihnen die Magie der Zeit zu lehren.
„Ich werde euch nun den Zauber der Zeiten lehren…“, verkündete er.
Die große Gestalt in der Mitte hob freundlich die Hand und lachte Li mit funkelnden Augen an.
„Wir danken dir für deine Hilfe, aber wir wissen bereits um den Zauber der Zeiten.“
Das kleine Wesen mit den weißen Haaren trat einen Schritt vor und knickste höflich.
„Der Geist der vergangenen Weihnacht.“, stellte es sich vor.
„Der Geist der diesjährigen Weihnacht.“, sagte der große Geist mit den braunen Locken und dem Mistelkranz auf dem Kopf. Dann sah er auf zur schwarzen Gestalt neben ihm.
„Und der Geist der zukünftigen Weihnacht.“, stellte Li fest, während er in die Schwärze hinaufstarrte, in der er die Kapuze des Geistes vermutete.So geschah es, daß drei Geister hinter dem Baum hervortraten. Wan Hu wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn er welche gehabt hätte, als sie bedächtig auf ihn zu schwebten, schritten und von Schatten zu Schatten wechselten. Das erste Mal seit Jahrhunderten war er nun mehr nicht von Zorn und Enttäuschung erfüllt, sondern von Angst und Hoffnung. Die drei Geister stellten sich ihm vor als der Geist der vergangenen, der diesjährigen und der zukünftigen Weihnacht.
Li beobachtete die merkwürdige Szene aus einiger Entfernung und er sah wie der kleine Geist, der weiß leuchtete und einen Mistelzweig in der Hand trug, Wan Hu bei der Hand nahm und mit ihm in eine Tür verschwand, die vor ihnen in der Nachtluft erschien. Nachdem sie hindurch gegangen waren, verschwand die Tür.
Der kleine Geist nahm Wan Hu mit auf eine Reise in seine Vergangenheit, in jene ferne Zeit, da er ein hochgeachteter Astronom am Hofe des chinesischen Kaisers gewesen war. Kaum hatte er sich selbst erkannt, als junger Mann bei Hofe, erinnerte er sich an vieles, was ihm über die Jahre in Vergessenheit geraten war. Zu jener Zeit war ihm nichts Schöner gewesen, als von den fernen Sternen zu träumen. Er träumte von ihnen bei Tage und auch in der Nacht. Er wurde sehr glücklich, als er sich selbst sah, und wie gründlich er bei seiner Arbeit war, den Verlauf der Gestirne zu verfolgen, und ihre Ordnung zu studieren. Aber dann sah er, wie er im Laufe der Jahre den Kontakt zu den Menschen verlor, die seine Freude früher mit ihm geteilt hatten. Seine Freunde aus Kindeszeiten, seine wundeschöne junge Frau und seine Familie, allesamt traten in den Hintergrund seiner Forschung über die himmlischen Sphären. Es kam eine Zeit, da er nur noch bei Tage schlief, um in der Nacht allein die Sterne zu sehen. Als der alte Wan Hu das sah, mochte er nicht an das denken, was er als nächstes sehen würde. Doch der Geist der vergangenen Weihnacht zeigte ihm auch das, was er nicht sehen wollte, führte ihn weiter durch die Zeit bis zu dem Tage da Wan Hu, der ein Mann mit grauen Haaren geworden war, entschloß, zu den Sternen zu reisen. Mit Hilfe seiner Schüler befestigte er siebenundvierzig Pulverraketen an dem stabilsten Holzstuhl, der sich finden ließ. Er nahm Abschied von den Menschen, die ihm früher soviel bedeutet hatten, ließ die Raketen zünden, und dann stieg er mit einem lauten Donnern auf, immer weiter, immer ferner, bis die Welt unter ihm kaum noch zu sehen war. Das war seine Reise. Die Reise Wan Hus zu den Sternen.Dann kehrten sie zurück, erneut durch eine Tür, die wie aus dem Nichts im nächtlichen Wald erschien. Nur zögernd ließ Wan Hu die Hand des kleinen Geistes los, der ihm seine Vergangenheit gezeigt hatte. Doch mit dem Geist der diesjährigen Weihnacht setzte Wan Hu seine nächtliche Reise fort, flog mit ihm hinaus in die schwarze Winternacht.
Was war aus ihm geworden? Hatte er die Sterne erreicht? Nein, immer noch waren sie so fern, unerreichbar selbst für Wan Hu. Das erkannte er jetzt, nach so vielen endlos langen Jahren in der Leere des Weltenraums. Es fror ihn bitterlich und er begann sich nach seinen Freunden und Verwandten zu sehnen. Der Geist führte ihn in eine Landschaft die Wan Hu vertraut war. Er erkannte in der Ferne die Tempel und Pagoden, obwohl sich im Laufe der Jahre vieles verändert hatte. Dann sah er hinab. Neben ihnen saßen zwei Menschen im Gras und blickten in die Sterne. Sie konnten weder ihn noch den Geist sehen, und so traten sie noch näher, bis sie die leisen Worte hören konnten, die sie sprachen. Es war ein Vater, der seinem Sohn die Geschichte von Wan Hu erzählte, der zu den Sternen reiste. Wan Hu erschrak bei dem Gedanken, daß sich die Menschen nach hunderten von Jahren noch immer an ihn erinnerten. Aber dann erkannte er, daß sie nicht wußten, daß er die Sterne niemals erreicht hatte. Und er hörte den kleinen Jungen von den fernen Sternen träumen, wie auch er einst von den fernen Sternen geträumt hatte.
Ein starker Windstoß erfaßte Wan Hu und trug ihn über die halbe Welt zurück in den Wald, wo der Geist der zukünftigen Weihnacht auf ihn wartete.
Wan Hu sah sich um. Er stand wieder in dem dunklen Wald. Am Horizont zog bereits ein bleierner Schimmer herauf. Bald würde es Morgen sein. Hinter ihm standen der Geist der vergangenen Weihnacht und der diesjährigen Weihnacht und sahen ihn hoffnungsvoll an. Wan Hu blickte wieder nach vorn. Dort stand der Geist der zukünftigen Weihnacht. Er erhob sich wie ein gespenstischer Pilz vor ihm in der Luft und beugte sich weit über ihn. Wan Hu bedrückte eine furchtbare Angst. Irgendwo in der Kapuze des unheimlichen Geistes starrten ihn unsichtbare Augen an und griffen nach seinem Innersten. Aber eine seltsame Kraft zwang ihn zum Hinsehen. Dann erkannte Wan Hu die Dunkelheit, die sich vor ihm auftat. Er hatte sie schon einmal gesehen. Es war die Leere, durch die er all die Jahre hindurch geirrt war. Eine tiefe Trauer erfaßte Wan Hu.
Dann funkelte in der Ferne etwas auf. Wan Hu sah genauer hin. In der Endlosigkeit des Alls war es schwer, ein Gefühl für Dimension und Richtung zu behalten. Er versuchte mit aller Kraft das Funkeln in der Ferne zu erkennen. Dann sah er, daß es sich ihm langsam näherte. Hatte er die Sterne erreicht? Hatte er es jetzt endlich geschafft? Was würde sich ihm nach den kalten Jahrhunderten der Einsamkeit offenbaren? Und dann sah er, was es war.Es war ein kleiner skelettierter Junge, der ihm aus der Dunkelheit entgegenraste, geklammert an einen massiven Holzstuhl, lodernde Flammen in seinen Augen. Es war der Junge, den sie auf dem Hügel hatte sitzen sehen.
„Neeein!“, schrie Wan Hu.
Er stand wieder in dem nächtlichen Wald. Mit einem lauten Knall stoben Funken aus seinem Körper, die wie ein Schwarm Glühwürmchen durch die Nachtluft rasten.
Wan Hu sank in sich zusammen. Die drei Geister traten schützend vor ihn.
„Nein.“, sagte Wan Hu mit menschlicher Stimme.
Der Funkenwind pulsierte wütend.
„Es wird andere geben, die mit kaltem Herzen durch den luftleeren Raum treiben. Wir werden zurückkehren.“ Die Funken brachen in Gelächter aus.
In diesem Augenblick zuckte ein roter Lichtblitz hinter einem nahen Baum hervor und traf die Funkenwolke, die in einem unmenschlichen Aufschrei zerbarst.
Wan Hu, zu seiner menschlichen Form zurückgekehrt, und die drei Weihnachtsgeister sahen verwundert zu dem Baum hinüber. Neben ihm stand Li und rieb sich grinsend die Hände.
„Sehr gut.“, sagte er. „Frohe Weihnachten, meine Freunde! Haha.“
Wan Hu erhob sich und betastete seinen Körper. Sein Gewand war in tadellosem Zustand, auch seine Kopfbedeckung hatte keinen Schaden genommen. Er strich sich über seinen glatten Bart und wandte sich zu den drei Geistern.
„Ich kann euch nicht sagen, wie dankbar ich euch bin. Ich stehe tief in eurer Schuld.“
Der Geist mit den braunen Locken winkte lachend ab.
„Betrachte es als ein Geschenk.“
Wan Hu verbeugte sich dankend und wandte sich zu Li.
„Es ist an der Zeit, zu euren Ahnen zurückzukehren, und zu eurer Familie. Seid ihr bereit?“, fragte Li mit ernstem Ton.
„Ich bin bereit,“ antworte Wan Hu, „Aber,“ er wandte sich zu den drei Geistern, „gestattet mir noch eine Frage. Was hat es mit dieser Weihnacht auf sich, von der ihr spracht?“
Der Geist der diesjährigen Weihnacht zwinkerte ihm zu.
„Das ist eine ziemlich lange Geschichte.“
Mit einer magischen Handbewegung und einer wortgewandten Zauberformel schickte der mächtige Li Wan Hu in einem Lichtblitz in die Welt der Geister. Langsam löste er sich auf, bis von ihm nichts übrig war, als das Funkeln in seinen dunklen Augen. Und als auch das verschwunden war, trat Li vor das Angesicht der drei Geister und sah zu ihnen auf.„Ich sehe, daß eure Macht sehr groß ist.“, sagte Li anerkennend und fügte nach einer bedeutsamen Pause hinzu, „Ich danke euch für eure Hilfe.“
„Auch wir danken dir, Li. Ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen.“, sagte der Geist der diesjährigen Weihnacht.
Während Li Anlauf nahm, um sich in die Wolken hinaufzuschwingen drehte er sich zu ihnen um und lachte sie an.
„Nichts ist unmöglich! Eines Tages werden wir uns wiedersehen, meine Freunde!“
Der Geist der vergangenen Weihnacht winkte ihm mit dem Mistelzweig hinterher. Seine kleine Hand leuchtete in der Dunkelheit.
„Frohe Weihnachten.“, flüsterte er leise. Und bald war Li im Dunkel der kalten Winternacht verschwunden.Die drei Freunde sahen sich an. Zweifelsohne war mit Li auch sein Zauber verschwunden, denn sie waren alle zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückgekehrt.
„Wow“, stutzte Tobi und atmete verdutzt aus.
Vincent sah auf seine Uhr und hob die Augenbrauen.
„Hey, es sind gerade mal fünf Minuten vergangen, seit wir in diesen Wald gegangen sind.“
„Kann ja wohl nicht angehen!“, lachte Tobi und sah auch auf seine Uhr. Es war tatsächlich so wie Vincent gesagt hatte. Alle drei lachten und dann sahen sie dorthin, wo der Meteor eingeschlagen war. Nichts war zu sehen, unversehrter Waldboden wohin sie auch sahen.
„Okay,“ Tobi schlug überzeugt mit seiner rechten Faust in seine linke Hand, “ich würde sagen, das war tatsächlich ne verdammt abgefahrene Weihnachtsgeschichte.“
„Soviel ist mal sicher,“ grinste Vincent.
„Wie wär’s wenn wir uns auf den Weg machen?“, schlug Kevin vor, „ich spendier euch nen Kakao… ich hab nen Bärenhunger. Verrückt!“
So lachten und scherzten sie als sie sich auf den Weg zurück in die Stadt machten.In dieser Nacht lag Kevin noch lange wach in seinem Bett und erinnerte sich an all das, was sie an diesem Tag erlebt hatten. Er sah hinaus aus dem Fenster in die kalte Winternacht, in der langsam schwere Wolken aufzogen. Langsam übermannte ihn ein wunderbarer, erholsamer Schlaf. Und Kevin begann zu träumen. Er träumte von einer großen Panik in der Stadt, und von etwas großem schwarzen, das aus den Wolken herabsank. Es war eine riesenhaften Kugel mit Dornen und Antennen, und in ihrer Mitte öffnete sich ein riesenhaftes schreckliches Auge, das ihn anstarrte. Und er hörte eine donnernde, mechanische Stimme.
„Fürchtet die überragende Macht des Sputnik!“
Im Traum hob Kevin noch eine Augenbraue, dann wachte er auf.
Er saß aufrecht in seinem Bett und rieb sich die Augen, gähnte ausführlich und sah sich in seinem Zimmer um. Alles war beim alten. Die Poster an den Wänden, die Comics auf dem Fußboden und die Robotermodellbausätze und Bücher in den Regalen. Kevin atmete zufrieden durch. Dann stand er auf und taumelte mit geschlossenen Augen zum Fenster. Als er seine Augen öffnete staunte er nicht schlecht. Eine dicke Schneedecke lag über der Straße vor seinem Fenster und über den Bäumen und Häusern auf der anderen Seite. Es schneite noch immer dicke weiche Flocken. Unendlich viele taumelten vom wolkenverhangenen Himmel in die Tiefe. Kevin grinste über beide Ohren und nickte mit dem Kopf, während er sich durch seinen Pyjama hindurch an der Schulter kratze.
„Na, das kann ja heiter werden!“