Karl May: „Winnetou“
Dieser Tage strahlte RTL eine dreiteilige „Winnetou“-Neuverfilmung aus. An sich genau die Art von Projekt, die ich kommentieren würde. Mache ich aber (noch) nicht. Der Grund: Seit Ewigkeiten habe ich diesen Artikel über die drei „Winnetou“-Romane auf Halde liegen und auf den werde/würde ich mich beziehen müssen. Daher hier erst mal etwas zur Vorlage, ehe ich demnächst – vielleicht – was über den Film-Dreiteiler schreibe.
Oft beklagte ich den Zustand der deutschen Popkultur, die sich nicht traut, herausragendes zu schaffen, oder sich auch nur ernst zu nehmen. Dabei sollte ich aber nicht aus den Augen verlieren, dass es durchaus auch mal anders war. So gibt es schließlich zumindest einen deutschsprachigen Trivialautor der ohne jeden Zweifel sogar einen nahezu mythologischen Status erreicht hat: Karl May.
Sein Leben als Betrüger und Hochstapler selbst war schon ein buntes Verwirrspiel aus Dichtung und Wahrheit und der Anspruch des Autobiographischen, mit dem er seine Romane herausgab, hob ihn dann endgültig aus der Sphäre des normalen Schriftstellerlebens.
Auch wenn er schon zu Lebzeiten enttarnt wurde, lebt seine Legende jedoch ungebrochen fort. Er gilt als Klassiker der Abenteuerliteratur und hat das Bild des Wilden Westens hierzulande entscheidend geformt.
Auch wenn er heutzutage nicht mehr zur kanonischen Jugendliteratur zählt, dürfte er auch jungen Lesern durch die Verfilmungen seiner Werke oder indirekt durch die Parodie „Der Schuh des Manitu“ geläufig sein. Trotz schwärmerischer Empfehlungen diverser Verwandter ging auch der Verfasser dieser Zeilen lange durchs Leben, ohne ihn gelesen zu haben.
Irgendwann schien es mir aber an der Zeit, das zu ändern und ich besorgte mir aus der örtlichen Stadtbibliothek die „Winnetou“-Trilogie von 1893.
Durchs wilde Groschenromanistan
Eine große Handlungsübersicht ist hier unnötig, da lediglich der erste Band eine durchgehende Geschichte erzählt, ansonsten bleibt es bei einzelnen Episoden meist zielloser Reisen durch das amerikanische Grenzland.
Unser Ich-Erzähler und Held Old Shatterhand (wie auch im Text angemerkt wird, angeblich der Autor selbst) beginnt als Greenhorn beim Eisenbahnbau, gewinnt dort erst die Anerkennung erfahrener Westmänner, dann die der Indianer und schließlich die (eigentlich ja germanische, nicht indianische) Blutsbrüderschaft mit dem Apachenhäuptling Winnetou. Loses Verbindungsglied der drei Bücher ist die Jagd auf Santer, den Mörder von Winnetous Schwester. Doch dieser tritt nur selten auf und hat so gut wie keine Persönlichkeit, da May seinen Schurken weder Individualität, noch Intelligenz, noch Fähigkeiten irgendeiner Art zugesteht. Es sind dumme, ehrlose, grausame Pappfiguren, die nie den Hauch einer Chance gegen die Helden haben.
Das zu lesen macht tatsächlich Spaß. Zwar sind die allgegenwärtigen Comic-relief-Charaktere oft schlimm penetrant in ihrer Verschrobenheit und mit ihren erzwungenen Catchphrases, es ist flüssig lesbar und May versteht sowohl Action-, als auch Dialogszenen unterhaltsam zu gestalten.
Aber dass ihn viele Leute tatsächlich zur hochwertigen Literatur zählen, ist nichts als nostalgische Verklärung. Es ist purer Groschenromanstoff voll so überzogener Potenzfantasien, dass es immer wieder unfreiwillig komisch wird.
Aus dem Bereich der Fanfiction und auf dieser Seite vor allem aus meinem „Star Wars Episode VII“-Artikel) kennt man den Begriff der „Mary Sue“ für eine Figur, in die sich der Autor restlos herein projiziert und sie hemmungslos idealisiert. Eine Mary Sue kann alles und ist klüger und besser als alle anderen Charaktere, welche vor allem da sind, um sie zu bewundern. Und Old Shatterhand ist so ziemlich die größte Mary Sue, die ich je erlebt habe.
Die Abenteuer von Super Shatterhand
Anfangs verspottet man ihn, weil er wie Doktor Faust zwar alles Studierbare studiert hat, was ihm aber im Wilden Westen nichts nütze – doch dann zeigt sich, dass er besser schießt als jeder Kunstschütze, nach einem fünfminütigen Crash-Kurs besser Spuren liest als jeder Trapper oder Indianer, jedes Pferd in Minuten zureitet, indem er ihm mit seinen superstarken Beinen die Luft abpresst und jeden Gegner mühelos im Kampf mit Faust oder Messer schlägt (wobei er betont, mit letzterem zuvor noch nie gekämpft zu haben).
Die einzelnen Episoden glänzenden Triumphes werden meist nicht einmal pro forma mit anderem Material unterbrochen: Als er mit dem Trapper Sam Hawkens auf Bisonjagd ist, erlegt er sofort das größte und wildeste Tier, nachdem es das Pferd Hawkens‘ getötet hat. Also fängt man ein neues, wobei Shatterhand, der auch das zum ersten Mal macht, gleich das gewünschte Tier aus einer Herde holt. Kaum ist man zurück beim Lager, greift ein drei Meter hoher Grizzly an, den er aber mit seinem Bowie-Messer ersticht.
Hübsche Arbeit für einen Tag!
Man kann da durchaus eine kindliche Freude dran haben, wie ja etwa auch an frühen „Superman“-Comics, in denen der Mann aus Stahl noch nicht gleichwertige Superschurken bekämpfte, sondern endlos unterlegene Normalsterbliche, die ihn vorher als Clark Kent verlacht hatten, zur Sau macht. Doch als erwachsener Leser kann man es beim besten Willen nicht ernst nehmen.
Viele Leute, die das in ihrer Verklärung noch immer tun waren empört, als Michael „Bully“ Herbig ihre Kindheitshelden in seinem Film mit einer schwulen Karikatur versah. Zu meiner Überraschung war dies aber wohl kein willkürlicher Gag, sondern lässt sich tatsächlich an der Vorlage begründen: Auch, wenn man das damalige Bild romantisierter Männerfreundschaften berücksichtigt, umweht die Helden immer wieder ein Hauch der Homosexualität.
Zwar lobt der Erzähler auch die Schönheit von Winnetous Schwester, jedoch besonders, wie ähnlich sie ihrem Bruder sieht, welchen er schon vom ersten Blick an (als sie eigentlich noch Feinde sind) „lieb hat“ und von dem er Zeit seines Lebens eine Locke bei sich trägt. Den Gipfel seines Entzückens über die Schwester erlebt der Erzähler, als sie zu einer Reise aufbricht und Männerkleidung anlegt, so dass sie ihrem Bruder NOCH mehr gleicht.
In „Winnetou II“ nimmt dieser Tonfall etwas ab, wenn Winnetou hier auch offen erklärt, sich nicht für Frauen zu interessieren (dadurch gerechtfertigt, dass er seine große Liebe verlor). Zudem wird der Raum zwischen übermenschlichen Heldentaten Old Shatterhands inzwischen mit etwas mehr Handlung gefüllt.
Die Bürde des deutschen Mannes
Dafür kommt ein exzessiv deutschtümelndes Element hinzu: Praktisch jede positive Figur, die nicht Winnetou ist, hat deutsche Wurzeln und im Umkehrschluss ist auch jedem Menschen deutscher Herkunft zu vertrauen. Deutsche waren es, die den amerikanischen Bürgerkrieg gewannen, um das, für Deutsche unerträgliche rassistische System der Sklaverei abzuschaffen und Schurken in aller Welt hassen darum auch Deutsche mehr als sonst irgendwas.
Während die Filme ja gewissermaßen in einer Fantasywelt spielen, gibt es hier durchaus auch Bezüge zu realen und politischen Ereignissen, wie dem mexikanischen Bürgerkrieg und dem KKK. Was letzterer ist, war May anscheinend nur flüchtig bekannt, so hassen auch diese primär Deutsche, dass zum Team der Helden auch ein Schwarzer (fähiger Schütze und Trapper, auch wenn er nur „Ich verstehen, Massa“-Gestammel von sich gibt) gehört, interessiert die Kluxer weniger. Sie werden übrigens gänzlich aus Texas vertrieben, so dass ja dort bis heute Ruhe ist.
Mit dem unsagbar dürren, opiumsüchtigen Revolverhelden Old Death tritt auch erstmals eine zumindest ein wenig zwiespältige und damit recht interessante Figur auf, stirbt aber bald und taucht in den Filmen nicht auf.
So bleibt es ein Groschenroman, der von Episode zu Episode taumelt, ohne irgendeinen größeren Storybogen zu haben, als dass Winnetou und Old Shatterhand dicke Kumpels und Superhelden sind. Letzterer ist übrigens auch noch Detektiv und Meister der Verkleidung, in der Zivilisation also nicht weniger überlegen, als in der Wildnis.
Die ewig katholischen Jagdgründe
Im dritten Band, welcher durch den Tod des Titelhelden bekanntlich ganze Generationen traumatisierte, tritt dann ein weiteres überraschendes Element in den Vordergrund, welches bereits in den Vorgängern vorhanden war, hier aber zu neuer Größe erwächst: Religiosität.
Man sollte so ehrlich sein und zugeben, dass Mays starker christlicher Glauben seinen Romanen häufig gut tut: So ist Old Shatterhand nicht nur als Krieger, sondern auch als Humanist vortrefflich und pflegt eine Menschenfreundlichkeit, die sich ebenfalls mit der Supermans vergleichen lässt. Er ist ein Feind jeglicher Rache, hasst das Töten und häuft daher nur für einen Westernheld erstaunlich geringe Leichenberge an, weil er selbst im wüstesten Gemetzel darauf achtet, seine Gegner nur kampfunfähig zu schießen oder zu schlagen. Mit seiner himmelhohen Überlegenheit kann er es sich ja auch leisten – mag er einen Ganoven auch noch so oft davonkommen lassen, da er ja all seine kommenden Untaten ebenso leicht verhindern kann, wie die bisherigen. Auch nimmt ihm die strafende Hand Gottes gern mal die dreckige Arbeit ab, so dass er selbst seinen Erzfeind Santer nicht eigenhändig töten muss, da dieser im letzten Moment verschüttet wird.
Das ist ebenfalls oft überzogen und albern, innerhalb der Abenteuerliteratur, die sonst gern martialisch im Blut bevorzugt fremder Rassen watet, ein löblich moderner Zug. Sein Glaube, dass alle Menschen Kinder Gottes seien macht ihn zudem zu einem glühenden Antirassisten, als der er seiner Zeit voraus war. Nicht nur den Indianern gegenüber (die für May als Deutschen ja gewissermaßen Fantasiewesen waren), sondern auch im Hinblick auf Schwarze, deren Darstellung für uns heute vielleicht fragwürdig wirkt, die aber im Rahmen ihrer Zeit erstaunlich würdevoll dargestellt werden.
Dagegen steht dann allerdings das Problem, dass sich Old Shatterhand (der übrigens auch als Choraldichter großartig ist) im Westen zwar unter edlen Wilden, aber eben doch unter Heiden befindet. Winnetou mag ein vortrefflicher Mensch sein, dennoch hofft er auf die ewigen Jagdgründe und nicht den Himmel, wie es richtig wäre. Darum wird es auch der größte Triumph des Helden, dass er seinen Blutsbruder schließlich bekehren kann, so dass sich dieser mit seinem letzten Atemzug zur heiligen Mutter Kirche bekennt. Für den Glauben des Autors war es notwendig, um die Seele seines Helden vor dem Limbus zu bewahren, für den modernen Leser wirkt es jedoch etwas deplatziert.
Es lässt sich also zusammenfassen, dass Karl May ein recht talentierter Pulp-Schreiberling, mit einer klaren künstlerischen Handschrift war, der hübsche, flotte Abenteuergeschichten schrieb. So weit, so gut – aber weil ihn die letzten Generationen allesamt in ihrer Kindheit gelesen haben (als sie entsprechend unkritischer waren), wird heute gern so getan, als wenn er wirklich ein großer Meisterautor wäre.
Dieses Bild mag literaturgeschichtlich falsch sein, doch wie sein Leben selbst, dürfte die Legende hier die Realität überlagern. Ich persönlich bin gespannt, wie es mit der May-Rezeption weitergehen wird. Wenn die Generation, die ihn jetzt verehrt wegstirbt, dürften noch eine Weile genug ihrer Kinder – mehr durch die Filme, als durch die Bücher – damit vertraut sein, die Nostalgie am Leben zu erhalten. Ob aber auch die Enkel dem Zauber des katholischen Superwestmannes verfallen, vermag ich nicht zu sagen.