„Vincent will Meer“ oder Dramaturgie geht über Krankheitsbild
„Vincent will Meer“
(2010) von Ralf Huettner
Ralf Huettner hat bei „Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem“ und der „Musterknaben“-Trilogie Regie geführt. Dafür auch bei „Der kalte Finger“ und „Voll normaaal“… in Sachen Karma also ein schwieriger Fall. Über „Vincent will Meer“ habe ich bislang ausschließlich positives gehört, da er aber aufgrund seiner Prämisse (drei junge Leute mit psychischen Problemen wollen ans Meer) bei den meisten Kritikern eine sichere Sache ist, muss auch das wenig heißen.
Es war also alles offen und alles möglich und ich durch keinerlei Erwartung oder Vorurteil eingeschränkt.
Wir haben also Vincent (Tourette-Syndrom), Marie (Anorexie) und Alexander (Zwangsstörungen), die das Auto ihrer Therapeutin stehlen um damit nach Italien zu fahren. Löblich, das sei gleich vorweggenommen, ist, dass man nicht den im Film verbreiteten Weg geht, psychische Krankheiten klein zu reden und so zu tun, als würde ein gemütlicher Nachmittag unter Freunden sie heilen. So verzichtet er auch auf ein echtes, rundes Happy End und hinterlässt eine seiner drei Hauptfiguren in einer, für einen sonst recht heiteren Film, erstaunlich düsteren Lage.
Weniger löblich jedoch der Holzhammer, mit dem er vieles erzählt. Es beginnt mit der Trauerfeier für Vincents Mutter, bei der alle missbilligend tuschelnd auf den zuckenden Helden sehen, als wäre ihnen sein Leiden neu. Kurz darauf darf ihm dann sein daueranzugtragender Vater (Heino Ferch übrigens) im Klartext an den Kopf werfen, dass seine Krankheit Schuld am gerade betrauerten Alkoholtod sei und ihn mit wenigen, betont desinteressierten Abschiedsworten („Dann bis Weihnachten.“) in eine Klinik abschieben. Die dortige Leiterin ist die Unfähigkeit in Person, bringt den Unkontrollierbaren Vincent gleich mal in ein Zimmer mit dem Kontrollfreak Alexander zusammen und scheint generell fassungslos darüber, dass die psychisch Kranken in ihrer Klinik irgendwie andersartig zu sein scheinen, weshalb sie gern mal schreiend Dinge von ihrem Schreibtisch schlägt.
Apropos Schlagen: In seiner Konzentration auf Vincents berechtigten Frust ob seines Elternhauses, wird ziemlich ignoriert, dass er ein erhebliches kriminelles Potential hat. Ein ihn verspottendes Kind rammt er gegen ein geparktes Auto, Alexander, der ihn und Marie beim Autodiebstahl beobachtet, entführt er kurzerhand und später, als sie sich streiten, schlägt er das Gesicht desselben mit den Fäusten zu blutigem Brei, als der, durch seine Berührungsängste Wehrlose bereits am Boden liegt. Letzteres geht aber okay, weil es ihn langfristig entspannt. Dann ist ja gut.
Wenn Anzugvater und Ärztin die Verfolgung aufnehmen, wird letztere übrigens auf einmal besonnen und nachdenklich, so dass ich überlegte, ob man hier zwei Figuren zu einer zusammenschrieb. Als sie gegen Ende fürchtet, als Therapeutin versagt zu haben (was sie ständig und vollkommen hat), wird ihr dann auch widersprochen.
Handwerklich ein wunderhübscher Film, mit dessen unsauber gezeichneten und zu oft nicht hinterfragten Figuren (gerade Alexanders Zwänge kommen und gehen, wie es passt und wenn es die Szene stören würde, bleiben auch Vincents Anfälle aus) ich schlecht mitfühlen konnte, wobei ich als Norddeutscher wohl auch die Faszination vieler Filme für das Meer nicht so ganz mitempfinden kann. Wie gesagt ist zu loben, dass er auch die Störungen seiner Figuren ernst nimmt und er langweilt auch nicht, aber die Perle, als die er oft bezeichnet wird, ist er auch nicht.
(Dirk M. Jürgens)