Theater: „The Black Rider“ (Burroughs/Waits/Kreutzfeld, Kiel 2012)
Bevor ich auf mein gestriges Theatererlebnis zu sprechen komme, möcht ich ein generelles Problem des modernen Theaters ansprechen: Die Unbeurteilbarkeit der zugrunde liegenden Stücke.
Ich kannte vorher die Sage vom Freischütz und auch Webers Opernfassung derselben und Tom Waits‘ Album „The Black Rider“, nicht jedoch William S. Burroughs‘ Stück selbst. Nachdem ich es nun gesehen habe, vermag ich es aber trotzdem nicht wirklich zu beurteilen, da ich nicht sagen kann, was Vorlage und was Inszenierung war. Wer ist für die zeitschindenden Textwiederholungen verantwortlich – Autor oder Regisseur? Steht im Skript, dass Dialoge durcheinander gesprochen werden sollen, so dass man sie nicht versteht, oder war das ein Einfall der Regie? Wenn Leute mit dem Kopf nach unten von der Decke hängen, während am Rande jemand in einer Badewanne sitzend Luftballons aufbläst, gehört das zum Drama selbst oder war ein Einfall, mit dem nur diese Inszenierung ihre Bühne füllt?
Derartige Beobachtungen habe ich schon öfters und auch – wenn nicht sogar vor allem – in Klassikern gemacht. Dort kannte ich die Vorlage (bzw. konnte mir denken, dass Schiller seine Räuber nicht an ihren Brustwarzen saugen liess), wusste also, wo der Regisseur den Verpflichtungen des Fließbandtheaters nachgab. Doch völlig ungeachtet des künstlerischen Wertes all dieser Spielereien und sogar ungeachtet des Respekts, den man dem Autor entgegen bringen sollte, frage ich mich, inwieweit ein staatlich gefördertes Theater damit noch seine Aufgabe erfüllt. Man denke nicht an den vorlagenkundigen Besucher, sondern etwa den Schüler, der seine erste Begegnung mit dem Stück hat.
Wenn er Leute durcheinanderredend sich die Kleider vom Leib hat reissen und inmitten Farbengespritzes hat herumfummeln sehen, wo beim Autor lediglich eine königliche Audienz geschildert wurde, kann er dann wirklich sagen, er kenne das Stück, könne „MacBeth“, „Faust“, „Rigoletto“ oder was auch immer beurteilen?
Der Erstkontakt mit den Klassikern wird erschwert, der unvorbereitete Zuschauer abgestoßen. Statt einer Öffnung der Kultur für möglichst viele Menschen aus möglichst vielen Schichten, findet eine elitäre Schließung statt. Das halte ich für einen fatalen Irrweg.
„The Black Rider“ hat zumindest den Vorteil, dass es kein Klassiker aus einer anderen Bühnenphilosophie ist, sondern ein modernes Stück, bei dessen Uraufführung Autor, Komponist und Regisseur Hand in Hand arbeiteten. Es blieb aber dennoch dabei, dass vieles Unverständlich blieb und sich nicht sagen ließ, was sich in all der Inszenierung gerade wirklich an Handlung abspielte.
Malte Kreutzfelds Aufführung zeigt sich dabei wie ein Musterstück der Licht- und Schattenseiten des moderenen Theaters. Trotz der meist schlicht ausgestatteten Bühne, werden die Effekte und Requisiten effektiv eingesetzt und mit allen Mitteln moderner Bühnentechnik immer wieder für gelungene Bilder und dichte Stimmung gesorgt. Sein Teufelsdarsteller David Allers (sind wir ehrlich – der Teufel ist immer am interessantesten) sprüht vor Spielfreude und überdrehter Diabolik und die Musikstücke sind allesamt angenehmer zu hören, als Waits Originale (was natürlich kein Kunststück ist, da gegen den künstlerisch zweifellos verdienten Tom Waits selbst Bob Dylan wie Pavarotti klingt). Auf der anderen Seite wird aber relativ lückenlos die ganze Bandbreite dessen geboten, was routiniert, uniform und originalitätsfrei jede Arbeit modernen Regietheaters auszeichnet: Man spricht durcheinander, man wiederholt (gern zweisprachig), die männlichen Darsteller ziehen sich aus (immerhin konnte ich mich als perfekter Gentleman erweisen, als ich bei Allers oben-ohne-Auftritt wortlos das Opernglas meiner Begleiterin reichte), es wird herumgesaut und aus der Rolle ausgebrochen.
Die Interaktionen der Figuren bestehen dabei wie üblich fast ausschließlich aus Anzüglichkeiten oder Gewalttätigkeiten, gerne gemischt und besonders gern homoerotisch. Auf eine sinnvolle Verbindung von Spiel und Handlung wird allgemein gepfiffen (wenn sich der Teufel beim Helden Wilhelm einschmeichelt, sollte er dabei nicht an dessen Freundin herumfummeln) und Texte gern den falschen Figuren zugeteilt. So singt Käthchen ihrem Geliebten, dem Jäger „I shoot the moon“ und ausgerechnet der Fürst der Finsternis warnt mit „Gospel Train“ eindrücklich „don`t listen to the devil“. Der Humor, den das Publikum zu meiner Scham meist laut lachend kommentierte, war ebenfalls das übliche Gestoße, Geschubse und Gestolpere. Zuweilen scheint es mir, als wenn die Hochkultur am liebsten all die komischen Verwicklungen und Wortwitze der Klassiker zugunsten archaischen Slapsticks fallen lassen würde. Unklar ob komisch oder ernst gemeint, waren die plumpen, gern zwischen den Sprachen schwankenden Reime auf Grundschultheaterniveau, die darüber nachdenken ließen, ob es wirklich so eine gute Idee war, zwei englischsprachige Künstler zum Schreiben eines deutschsprachigen Stücks zu engagieren.
Eine gute Idee Burroughs‘ war es, die magischen Kugeln hier als Metapher für Drogen einzusetzen: Die ersten sind umsonst, doch später gelingt Wilhelms zitternden Fingern nichts mehr ohne sie, doch nun ist ein Preis dafür zu zahlen. Bei Kreutzfeld wird Wilhelm gleich damit eingeführt, dass er sich einen Schuss mit seiner Schreibfeder setzt, damit man auch ja gleich in die richtige Richtung denkt, obwohl er dadurch von Anfang an ein Junkie und die Metapher damit hinüber ist.
Durch diesen persönlichen Bezug machte ich mir zumindest große Hoffnungen auf das Ende, in dem es für den Autor ja noch zusätzlich autobiographisch wurde: Wie Wilhelm versehentlich seine Verlobte mit einer Teufelskugel tötet, erschoss ja auch Burroughs im Drogenrausch seine Frau. Doch da wurde ich schlimm enttäuscht: In einer langen stummen Szene (was im Theater selten wirkungsvoll ist) tut Wilhelm den tödlichen Schuss, das sterbende Käthchen wird von ihrem Vater an den vorderen Bühenrand gebettet, Wilhelm singt „Lucky Day“ und anschließend schwatzt der Teufel etwas vor sich hin. Weder wird der Sieg des Bösen, noch die große Tragik des Helden wird wirklich emotional genutzt, so dass das Stück förmlich ins Leere ausläuft.
Den gewaltigen Erfolg der Inszenierung bei Kritik wie Publikum (es wurde noch lange genug für zwei Zugaben applaudiert) führe ich darauf zurück, dass es zwar all die Merkmale des modernen Regieelends aufwies, entsprechend in diesem Rahmen gemessen werden muss, aber dennoch eine meist durchschaubare Handlung, reizvolle visuelle Effekte und großartige Musik aufweist. Wo sonst ähnliche Stücke ein einziges Leid unoriginellen, hohlen Geplappers sind, bietet „The Black Rider“ tatsächlich stellenweise immer wieder „a gay old time“, wie der Titelsong versprach. Das ist mehr, als man heutzutage von Bühnen erwarten kann. In einer besseren Theaterkultur wäre das Stück kritischer zu behandeln, in der Kloake der heutigen Kulturlandschaft ist es aber tatsächlich ein Highlight.
(Dirk M. Jürgens)
Lutz
25. März 2013 @ 18:14
So… nun meine Ausführungen zu „The Black Rider“. Wie schon an anderer Stelle gesagt, hast du meine Probleme mit dem deutschen Regie-Theater auf ganz wunderbare Art und Weise in Worte ausgedrückt, besser hätte ich es nicht sagen können, bzw. ich habe es bisher überhaupt nicht richtig sagen können 🙂
Bei „The Black Rider“ trifft die Kritik in Bezug auf die Inszenierung aber nicht ganz zu. Ich habe, wie zuvor erwähnt, weder die letzte, noch die frühere Kieler Inszenierung gesehen, aber ich habe damals die originale Inszenietung von Robert Wilson für das Thalia-Theater in Hamburg besucht.
Leider finde ich mein Programmheft für das Stück nicht mehr. Ich bin mir aber sehr sicher mich zu erinnern, dass Wilson, Waits und Burroughs sehr eng gemeinsam an dem Stück zusammengearbeitet haben. Da Wilson ein Regisseur ist, der auch in der Performance der Darsteller sehr starke visuelle Akzente setzt und das Wort der visuellen Darstellung meiner Meinung nach gern unterordnet, scheint es mir jedenfalls sehr wahrscheinlich. Burroughs hatte bei der damaligen Inszenierung auch eigene Tonaufnahmen zur Verfügung gestellt, die im Laufe des Stücks eingespielt wurden. Dies scheint mir ein weiterer Beleg für die Zusammenarbeit zu sein.
Viele der von dir genannten Beispiele waren auch in der damaligen Inszenierung vorhanden, insbesondere die quälend lange Super-Zeitlupe beim Schuss. Einerseits scheint dies ein beliebtes Stilmittel von Wilson zu sein (bei „Time Rocker“ hat er eine beinahe doppelt so lange Zeitlupe eingebaut in der noch viel weniger sichtbar passiert), andererseits scheint es ein Beleg dafür, dass diese Anweisung, möglicherweise auf Bitte Wilsons hin, bereits in Burroughs‘ Buch vorgelegen hat.
Gerade weil „The Black Rider“ ein Stück zeitgenössisches Theater ist, dass für eine deutsche Bühne von einem Regisseur, der sehr auf abstrakte Formen setzt, offenbar in enger Zusammenarbeit mit dem Autoren und Komponisten entwickelt wurde, treffen all die Kritikpunkte an modernen Inszenierungen aber nicht zu, weil die moderne Inszenierung quasi schon im Buch steckt.
Wenn andererseits die Kieler Bühnen „Gefährliche Liebschaften“ als Wasserfarben-Schlacht inszenieren oder die anderen Aspekte, die du genannt hast bei Klassikern eingesetzt werden, dann trifft deine Kritik genau den Kern des Problems.
Auf Youtube ist eine professionelle Aufzeichnung der originalen Inszenierung von Robert Wilson (als Aufzeichnung von irgendeinem Theaterfestival) mit Stefan Kurt und Dominique Horwitz in den Hauptrollen zu sehen. Es handelt sich wohl um eine Kopie von einer VHS Aufnahme, aber die Qualität ist schon ok. Wenn du magst, kannst du sie dir ja mal zum Vergleich anschauen.
Dirk M. Jürgens
26. März 2013 @ 12:21
Oha, jemand, der das Original gesehen hat? Alle Achtung!
Und du hast natürlich vollkommen recht, dass „The Black Rider“ ein eher schlechter Fall ist, um die Probleme der modernen Theaterregie aufzuzeigen, da es ja schon im Hinblick auf diese geschrieben wurde. Es war nur eben einer der wenigen Fälle, wo ich ein Stück nicht schon gelesen habe, bevor ich es ansah, wo ich also in der Lage eines „normalen“ Zuschauers war und feststellt, wie wenig man aus dieser heraus das zugrunde liegende Material beurteilen kann.
C.Schubert
17. April 2013 @ 8:03
Ich habe gestern ebenfalls Black Rider in der Kieler Inzenierung gesehen.
Eine Textzeile habe ich schmerzlich vermisst:
„Hurz – Das Lamm!““