„Wo die wilden Kerle wohnen“ oder Manische Depression – Der Film
„Wo die wilden Kerle wohnen“ (2009) oder Manische Depression – Der Film
von Spike Jonze
Vorbemerkung: Wer hier etwas über die ähnlich benannte Fußballfilm-Reihe sucht, ist hier so gewaltig falsch, wie es gewaltig falsch ist, sich für Fußball zu interessieren. Hier geht es, wie es sich gehört, um Monster.
Das Bilderbuch von Maurice Sendak war ein wichtiger Einfluss meiner Kindheit und vielleicht der Beginn meiner bis heute anhaltenden Leidenschaft für Monster. Anders als viele Dinge der Kindheit, vermag es aber auch im erwachsenen Rückblick zu bestehen, der die simple Bildergeschichte als psychologische Allegorie erkennt.
Meine erste Befürchtung, als ich von einer Verfilmung hörte, war demnach auch, es könnte zu sehr verharmlost, verniedlicht werden, doch das war wahrlich nicht der Fall! Wie allgemein bekannt, gab es Probleme mit dem Studio, die zu Nachdrehs und Umschnitten führten, aber noch immer ist es ein höchst ungewöhnlicher und kompromisslos wirkender Film geworden, der eiskalt an jeder Zielgruppe vorbeigeht.
Schon der Vorspann, bei dem die Logos von grimmigem Kindergekritzel übermalt sind, sowie eine erste Szene, in der Max (im freudianischen Wolfskostüm) brutal mit seinem Hund ringt, bis sie zu einem Standbild erstarrt in dem der Titel erscheint, erinnert eher an Lars von Trier, als einen Kinderfilm.
Nach einer Viertelstunde, in der wir die Probleme unseres kindlichen Helden (die Abwesenheit seines Vaters, die Distanz zu seiner älteren Schwester und die Verunsicherung über den neuen Freund der Mutter – ach ja, und das drohende Erkalten der Sonne) kennengelernt und sein Aggressionspotential erlebt haben, macht er sich unkommentiert auf die Seereise, die ihn dorthin führt, wo „die wilden Dinge leben“ (der deutsche Titel humanisiert mit seinen „Kerlen“ etwas sehr). Was real ist und was nicht, wird niemals thematisiert.
Die Monster, zu deren König er sich bald aufschwingt, sind recht offensichtlich Züge seiner selbst: Der ziegenbockartige Alexander (im Buch mein Favorit) leidet darunter, dass ihm niemand zuhört, die löwenartige Judith besteht aus purer Aggression und der gehörnte, gestreifte Carol schwankt zwischen der Sehnsucht nach Gemeinschaft und dem Frust über die Schwierigkeiten, mit anderen auszukommen. Sie leben in Streit und Unzufriedenheit, von Anfang an geplagt von Traurigkeit. In ihrem Herrscher Max glauben sie die Chance zu haben, glücklich zu werden, doch nachdem er sie erst für den Bau einer Festung begeistert hat, kommt es zu Streitigkeiten; die Hochstimmung verfliegt und die Gemeinschaft zerbricht wieder. Wo das Buch nur einen einzelnen kindlichen Wutanfall behandelte, begibt sich der Film in die Tiefen echten psychischen Leides. Auf die überzogene Begeisterung ob des Bauprojektes folgt die überzogene Niedergeschlagenheit – was hier illustriert wird, ist nicht weniger als eine manische Depression.
Wie gelähmt durchstreift Max die Insel, versucht mit den lethargischen Monstern zu sprechen und muss seine eigene Machtlosigkeit erkennen. Wie in der Irrationalität eines Alptraums richtet sich die verzweifelte Wut bald gegen ihn. Er ist ihr König, er sollte die Traurigkeit beseitigen, wieso habe er das nicht getan? Besonders sein vorher guter Freund Carol ist enttäuscht von ihm und versucht gar, ihn zu fressen. So muss Max sich eingestehen, dass er kein König ist, sondern nur er selbst – das Ich muss sich selbst erkennen und akzeptieren und vom Es scheiden. So kann er nun die Insel wieder verlassen, am Strand sehen ihm traurig die Ungeheuer nach und verfallen in ein wehmütiges Geheule. Max aber kehrt zurück zu seiner Familie, die Wiedervereinigung bleibt dabei kurz und ohne jeden Dialog.
Die perfekten Kostüme aus der Werkstatt Jim Hensons transportieren perfekt die Ambivalenz der Monster, die sowohl große starke Freunde, als auch lebensbedrohliche Gefahren sind und bilden so das Innenleben des Helden ab, der in seinen Trieben nur kurzzeitige Befreiung, aber keine Erfüllung findet. Psychologisch lässt sich der Film leicht aufschlüsseln: Sowohl die Schutzfunktion der Burg gegen die Außenwelt, sowie, dass sie aus Lethargie nicht vollendet wird, spiegeln die Symptome einer Depression wieder. Wenn der anfangs so freundliche Carol in rasender Wut einem Artgenossen einen Arm ausreißt und auch Alexander von einem Treffer mit einem Stein eine große Wunde zurückbehält, ist es ein Bild der Autoaggression. Die Probleme der Monster werden nicht gelöst, da auch die Triebe und Ängste immer in Max verbleiben werden, auch wenn er gelernt hat, sie zu kontrollieren. Und trotz all der monströsen Schauwerte, amüsanter Dialoge und lustiger Tollereien, bleibt diese Niedergeschlagenheit der prägende Eindruck des Films. Ob es wirklich um einen pathologischen Fall geht oder nur um das kindliche Gefühl, die eigenen Sorgen seinen so unüberwindlich groß, ist dabei unwichtig. Denn „Wo die wilden Kerle wohnen“ nimmt konsequent diese kindliche Perspektive ein und so sind seine Leiden eben wirklich so überlebensgroß.
Als Kinderfilm versagt er damit wohl ziemlich. Der kindliche Zuschauer wird nicht verstehen, dass die Monster Allegorien sind und ihr Problem darum bestehen bleibt – für ihn bleibt es einfach dabei, dass die an sich liebenswerten Gestalten verzweifelt und hoffnungslos auf einer Insel gefangen bleiben, die nach und nach zur Wüste wird. Die Sorgen des Studios waren also durchaus berechtigt und nicht etwa die Hollywood oft unterstellte Publikumsverachtung. Auch ein Kind, welches etwas düstere Filme etwa „Labyrinth“ kennt und mag, könnte dieser harten Kost vielleicht nicht gewachsen sein.
Jonze selbst sagte: „Dies ist ein Film über die Kindheit, kein Film für Kinder.“
Als Kunstwerk hingegen ist es ein Meisterstück. Die saubere, unaufdringliche Allegorie, die perfekten Kreaturen und oft wunderschönen Bilder sowie der melancholische Soundtrack erzeugen eine so starke, wehmütige Stimmung, wie man es nur selten sieht und trotz ihrer Labilität und Brutalität schließt man die, der Vorlage detailgetreu nachgeahmten Monster bald ins Herz. Zumindest tat ich das – ich verstehe jeden, dem dieser Film mit seiner Düsternis und Handlungsarmut nicht gefällt und der lieber ein „richtiges“ Monsterabenteuer erlebt hatte. Doch für mich ist Spike Jonzes „Wo die wilden Kerle wohnen“ einer der seltenen, außergewöhnlichen Fälle, in denen starker sinnlicher Genuss mit klugem Inhalt gepaart wird. Und diese echten Kunstwerke entziehen sich nun einmal häufig einer konkreten Zielgruppe.
(Dirk M. Jürgens)
milan8888
5. November 2012 @ 14:25
Dann gehöre ich wohl auch zur Zielgruppe.