„Alice in Wonderland“ (2010) von Tim Burton
„Alice in Wonderland“ von Tim Burton (2010)
Haben Sie jemals „Alice im Wunderland“ und „Through the Looking Glass“ gelsen? Nein? Dann ist Ihnen vermutlich die Disney-Fassung aus dem Jahre 1954 geläufiger? Das dachte ich mir. Ich für meinen Teil bin mit beiden Welten groß geworden, habe sogar die 80er-Anime-Serie in nostalgischer Erinnerung und sicher ein Dutzend skurillster Interpretationen des Stoffes vom Stummfilm bis hin zum Computerspiel von American McGee, das einem verstörenden tschechischen Alice-Film aus den späten 80ern nicht unähnlich ist. Der Stoff bietet also unheimliche Untiefen – das ist bekannt. Nursery Rhyme wird Nursery Crime. Wie verlockend ist es nicht immer schon gewesen, einen „Return to…“-Stoff zu entwickeln, der dazu einlädt, eine entstellte, alpraumhafte Interpretation der Vorlage zu stricken und der darauf abzielt, kindliche Nostalgie am Schopf zu packen und psychologische Kriegsführung gegen die vermeintlich harmlosen Fantasiewelten zu betreiben. How very weird!
Neben Alice hat wahrscheinlich nur „The Wizard of Oz“ ähnlich viele Mutationen durchgemacht – und mit nicht wenig Erfolg! „The Return to Oz“ (1985) hat es genau mit dieser Formel erfolgreich ins Kino gebracht. Und was hat es mich damals gegruselt!
25 Jahre später gibt die Disney-Firma uns „Alice in Wonderland“ und hätte besser daran getan, den Film „Return to Wonderland“ zu nennen, denn das Konzept ist dem von „Return to Oz“ so ähnlich, dass es fast schon unanständig ist. Muss ja aber nicht schlecht sein.
Ist es aber.
Tim Burtons „Alice in Wonderland“ in fabelhaftem 3D ist ein Fest für die Sinne – wäre da nicht dieser Graue Schwamm (ich meine das Gehirn), der sich unangenehmerweise genau zwischen Ohren und Augen eingenistet hat und mit ständig zuflüstert, dass der ganze Film ein drehbuchtechnisches Debakel ist. Um also ein derart dummes Drehbuch nicht mit zu viel Worten zu belohnen, hier das Ganze im Schnelldurchlauf:
Kleine Alice hat böse Träume, wird erwachsen, verständinsvoller Vater ist tot. Alice, trotziger aber unsicherer Freigeist soll adligen Deppen heiraten, fällt aber vor Verlobung und versammelter High-Society in Kaninchenloch. Wunderland. Alle haben auf Alice gewartet, Alice kann sich nicht erinnern schon mal dagewesen zu sein. Herzkönigin hat Schreckensherrschaft errichtet, Weisse Königin lebt in der Verbannung, Alice soll den Jabberwocky töten, um ihrer Bestimmung zu folgen und das Land zu befreien. Das Wunderland (das eigentlich Unterland heisst) steht ihr zur Seite, allen voran der verrückte Hutmacher – Zugpferd des gesamten Films.
Hoi, waaait a minute. Klingt machbar? Klar. Hat aber nicht geklappt. Warum? Die Mischung machts: Die Dialoge haben rein gar nichts von Carrolls Wortwitz und dem zahlenden Punlikum werden Versatzstücke zugeworfen, die so trocken sind, dass man vor Filmende fast daran zu ersticken droht. Alle Entwicklungen der Handlung werden mit billigsten Plot-Tickets bewerkstelligt: Schriftrolle, Hut, Schwert, Monsterauge. Das Ganze ist einfach ziemlich dumm.
Eine DER größten Fehlentscheidungen des Projektes ist ganz sicher, den Hutmacher zur Leitfigur zu machen, die halt mal ab und zu ein bisschen tüdelig und ein bisschen verrückt ist aber an sonsten ganz gut als Freiheitskämpfer und Mädchen für Alles in der Story funktioniert.
Jeder, der Carroll gelesen hat, weiss, dass der Hutmacher verrückt ist. VERRÜCKT! Jenseits aller Vernunft. Er ist neben der Spur. Unberechenbar. Mad as a hatter! Mit dem ist nichts anzufangen. Kinder, hütet euch vor solchen Leuten. Großer Gott. Im Jahr 2010 gibt uns Tim Burton den Knaben als väterlichen Freund an die Hand. Habt Ihr sie noch alle?
Nun ja. Was bleibt also zu sagen, wenn man bedenkt, dass das Kind bereits ins Wasser gefallen und jämmerlich ertrunken ist?
Das „Unterland“ (Pfft. Dämliche Idee) ist vollkommen leer. Wo der 54er Disneyfilm uns einen von Leben wimmelnden, traumhaften Ort zeigt, gibt es bei Tim Burton nur Klebebilder aller bereits bekannten Figuren zu sehen. Etwas schmal, Herr Zauselkopf! Das, WAS wir sehen ist natürlich rein technisch äußerst imposant – gerade die verzerrten Größenverhältnisse der Figuren und die Perspektivenspielereien sind meisterlich gemacht. Stilistisch ist das ganze weniger überzeugend (was sicher wieder Geschmackssache ist). Auf mich wirkte das Produktionsdesign, als hätte sich Dr Seuss einen Faustkampf mit einer Legion französischer Modefritzen geliefert – die Reste hat man dann im Alice-Film verwurstet.
Die Animation selbst ist knorke, was wir von Disney auch erwarten dürfen, schliesslich ist 3D für Disney ja offenbar der heilige Gral schlechthin. Aber auch da funtioniert bei weitem nicht alles: Tweedle-dum und -dee -Little Britains Matt Lucas- sehen zwar schön käsig aus, man hat aber den Eindruck als hätte man Lucas‘ Gesicht auch auf eine Birne, einen Sack Zement oder einen umfallenden Sack Reis texturieren können, mit ähnlich überzeugendem Ergebnis. Laangweilig. Crispin Glover hat wohl nie auf einem Pferd gesessen. Oder warum ist er dauernd computeranimiert? Lange Arme und Beine hin oder her. Das ist unnötig. Klarer Pluspunkt: Sämtliche Tiere – Disneys Heimpielvorteil wird deutlich. Ich hätte mir 90 Minuten mit den höfischen Fröschen angesehen. Die waren toll! Der Märzhase war auch ein Treffer.
Zum Finale: Stellen Sie sich vor, sie kombinieren das Finale von „Sindbads siebente Reise“ mit „Jeanne D’Arc“ und das Bild ist perfekt – und so hat der Kampf mit dem Jabberwock wenig orginalwert.
Nach ihrem Abenteuer im Unterland schlägt Alice jedenfalls die Heirat aus, wird aber Azubi bei ihrem Nun-Doch-Nicht-Schwiegervater, weil sie die gleiche verrückte Weitsicht wie ihr toter Vater beweist, als sie ihm vorschlägt, wirtschaftlich im fernen China zu investieren. *Schweig*
(Ich fühl mich an Passion of Christ erinnert, an die Stelle, an der Jesus den Ausziehtisch schreinert… wie blöd!)
Achso… und die Tanzeinlage von Johnny Depp zum Schluss war zum Kotzen.
Habe ich erwähnt, dass ich eigentlich ein Tim-Burton-Fan bin? Denken Sie, es ist leicht, das hier zu schreiben? Ist es nicht. Aber da hilft auch kein Gastauftritt von Michael Gough oder Christopher Lee. Denn Burtons „Alice im Wunderland“ ist keine postmoderne Freiheit sondern ganz einfach postmoderne Verwässerung. Böser Tim. Ab in die Ecke. Aber nein, offenbar sieht der Disney-3D-Vertrag für den Maestro vor, als nächstes seinen „Frankenweenie“ (1984) in IMAX-3D zu remaken. *Schweig*
Aber es gibt gute Filme von Tim Burton. Da hinten, in der Vergangenheit. Wie wärs mit einem „Return to Tim Burton“-Film? Wo alles ganz komisch ist… ganz ungewohnt. Moment… ich glaube ich bin gerade ein wenig aus der Spur geraten. Aber das sind die besten von uns.
„Why is a raven like a writing desk?“… Ist mir doch egal. Warum ist der Film so’n verdammter Käse? Genauso schwer zu beantworten.
Damit die geneigten Leser nicht ganz ohne Leckerli nach Hause surfen:
Pogos Remixes zum 54er Alice sind auch postmodern… und verdammt gut!
John Ajvide Lindqvist: “So finster die Nacht” (2004) - Weird Fiction
31. März 2010 @ 9:20
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