„Kult“ von Ljubko Deresch
(dt. Ausgabe / edition Suhrkamp) Thriller / Horror / ukrainisches Kultobjekt
Ende 2005 horchte man als Freund der Weird Fiction irritiert auf, als plötzlich „Cthulhu“ und „Lovecraft“ wie selbstverständlich durch die Kulturteile der Tageszeitungen trudelten. „Die großen Alten“ im „Spiegel“? „Yog-Sothoth“ in der „FAZ“? Wie kann so etwas von Statten gehen? Hat etwa eine seltsame Konstellation der Gestirne furchtbare Menschheitserinnerungen in den sterblichen Gehirnen der Feuilletonisten wachgerufen?
Mitnichten! All diese Vokabeln schwammen im Kielwasser einer der Kulturentdeckungen des Jahres: Ljubko Deresch war einer der Pop-Stars des Literaturherbstes, und so versorgte uns die Presse pflichtbewußt mit Großfotos des Jungautoren, mit Interviews und garnierten das Ganze mit dem Ehrentitel „Wunderkind“.
„Kult“ hatte Deresch vier Jahre zuvor in seiner Heimat, im ukrainischen Lemberg (ukr.: Lwiw), in der Zeitschrift „Tschetwer“ veröffentlicht – 2002 folgte die Buchausgabe. Der junge Autor, Freund und literarisches Mündel eines der großen Literaten der Ukraine Jurij Andruchowytsch, war 17 als er „Kult“ schrieb und das ist eine beachtliche Leistung!
Obwohl ich die Bestsellerlisten normalerweise erst mit Jahrzehnten Verspätung für mich entdecke (Ausnahmen soll es gegeben haben), haben Sie, werte Leser, es meiner Frau zu verdanken (die mir ihre Ausgabe von „Kult“ vor Kurzem mit freundlichem Drängen zur Verfügung stellte) daß ich es hier nun Ihnen weiterempfehlen kann. Ein paar Tage später nämlich musste ich mal wieder eingestehen, daß das Buch bei Weitem besser war, als ich erwartet hatte.
Aber lassen wir das Kulturphänomen „Kult“ doch einmal beiseite und sehen uns das Buch ganz auf sich gestellt an:
Die Story folgt, wie die Übersetzer der deutschen Ausgabe im Nachwort clever erläutern, dem Prinzip des amerikanischen Initiationsromans a la „Der Fänger im Roggen“. Wie in Salingers Klassiker heften wir uns an das alltägliche Leben eines jungen Einzelgängers und werden Zeugen seines Ringens mit einer Gesellschaft, mit der er sich nicht identifizieren kann. In diesem Fall ist es Jurko Banzai, Biologiestudent aus Lemberg, der als Hilfslehrer an eine Schule in der kleinen, unheimlichen Stadt Midny Buky berufen wird. Jurkos Leben ist prototypsch für das derer, mit denen er sich zu umgeben pflegt, Ausgestossene für die ein Verlust klassicher Werte nicht einmal mehr zutrifft, da sie in einer Welt ohne Werte aufgewachsen sind. Wo Zucht und Ordnung einst regierten, werden nun Pop- und Literatur-Ikonen zum Maßstab aller Dinge. (Wie sympathisch – das geht uns hier genauso!) „Alles von King oder Vonnegut“ gelesen zu haben oder Musik von Hendrix wirklich zu verinnerlichen, um dem alltäglich Trott Sinn abzugewinnen sind ebenso rechtmäßig wie der regelmäßige Drogenkonsum. Dabei bleibt Jurko Banzai ein Sympath, der seine Mitmenschen durschaut und uns gleichzeitig einführt in die verzwackte Welt der Jugendkultur Midni Bukys. Was folgt ist eine Mischung aus Emo-Soap und „Clockwork Orange“ und Autor Deresch beschwört einen bunten Mahlstrom an Jugendkultur, Slang und Wortwitz herauf, der – dank wunderbar respektvoller Übersetzer – wahrlich faszinierend ist. Was eine ukrainische Shell-Studie zur Jugendkultur hätte werden können, entpuppt sich als hypnotisierender Lesestoff, destiliert aus einer abgewogenen Mischung interessanter Charakter, uriger Szenerie und lebhaften Schreibstils.
Hier liest sich das Buch übrigens auch vom Aufbau und Ausdruck her sehr wie Stephen King (Deresch zitiert ihn gern als Vorbild): Schneller Szenenwechsel in einer festen Auswahl seltsamer Charaktere, für die der Autor kaum Mitleid aufbringt und mit viel bösem Witz im Ameisenhaufen der Darstellerriege stochert.
In dieses Konzept schleicht sich dann aber auch endlich der proklamierte Horror: Der Hausmeister der Schule hat mit alten Ritualen den „großen Alten“ Yog-Sothoth dazu gewonnen ihn mit endloser Macht auszustatten um dem Lovecraftianischen Dampfmann den Weg in unsere Welt zu öffnen. Langsam sickert das Böse hinein nach Midni Buky und erreicht in Wasserpfeifen-Visionen auch unserern Bio-Lehrer in spe. Das funktioniert, das ist gruselig und man freut sich schon auf mehr…
Anstatt den Horror des Unbekannten, der bei Lovecraft ja maßgebend ist, für sich zu nutzen, versucht sich Deresch hier nun an einem – wie soll man es beschreiben – strukturalistischen Anstatz. Unsere Welt wird durch die parallele Dimension Azatoth mit einem jenseitigen Ort verbunden, in dem der große Wurm „Yog-Sothoth“ nur darauf wartet, endlich zu uns hindurchzuschlüpfen, um mächtig zu frühstücken. Damit Jurko und seine Freunde dies nicht verhindern, versucht der böse Hausmeister sie durch ein Konstrukt aus Träumen und Alpträumen abzulenken und in den Wahsinn zu treiben, auf daß sie sich alle gegenseitig an die Gurgel gehen mögen.
In diesem Teil verlor das Buch leider etwas an Originalität (die mörderischen Träume kennen wir schon zur Genüge) – und zudem litt auch das Charakterensemble zunehmends. Figuren, die einem in den letzten 200 Seiten ans Herz gewachsen war, werden plötzlich nur noch zu einer Fußnote. Überraschungen birgt das Finale kaum und Horror ergriff mich auch nicht mehr. War es das schon? Vermutlich habe ich mir wohl zuviel Horror versprochen… aber Dereschs Roman bietet zweifelsohne guten Lesestoff. Ein toller ukrainischer Poproman von Weltklasse!
Und für die Trüffelschweine unter unseren Lesern: „Kult“ ist ein Sammelsurium an Anspielungen und Querverweisen – viel Spaß beim Suchen. Eine der zentralen Figuren im „Kult“-Pantheon ist der „Pfeifer an den Toren der Morgenröte“. „The Piper at the Gates of Dawn“ ist das Debütalbum von Pink Floyd, das („psychedelic anyone?“) sicher so manchen Abend in Jurko Banzais Leben beschallte. Ich für meinen Teil hörte ihn erstmals in Iron Maidens Song „Wicker Man“ und wie ich nun erinnert wurde entstammt der Begriff ursprünglich Kenneth Grahames „Der Wind in den Weiden“. In Kapitel 7, „The Piper at the Gates of Dawn“ machen sich der Maulwurf und die Wasserratte auf die Suche nach dem geheimnisvollen Flötenspieler – von dem man annimmt, es handele sich um eine Inkarnation des Gottes Pan. Nun, scheinbar keine schlechte Gesellschaft wenn der Untergang der Welt bevorsteht! Und nur ein Beispiel dafür wie Kultur zu Pop wird und dann wieder zu Pop-Kultur und dann zu „Kult“. Und es geht weiter. (Ob Jurko Banzais Name ein Verweis auf den Film „Buckaroo Banzai“ ist oder nicht konnte ich bislang allerdings noch nicht bestätigen… aber ich glaube fest daran!)
[rating:4]
(Sebastian Kempke)