„Moin Moin Mutanten“ von Sebastian Kempke
Eine Nacht in der Bushaltestelle an einer einsamen Landstrasse mitten in finsterer Nacht wird für ein junges Mädchen aus der Stadt zu einem Alptraum der abstrusen Art. Sebastian Kempkes Kurzgeschichte „Moin Moin Mutanten“ geht auf keine Kuhhaut!
(Copyright 2005 Weirdfiction.de)
Hannah zog frierend die Knie an und lehnte sich angstvoll vor, um in die verregnete Dunkelheit zu stieren, die sich ausserhalb der Bushaltestelle erstreckte, irgendwo im Nirgendwo.
Es war ihr vollkommen klar, daß der Bus nicht vor zwei Uhr vierzig aufkreuzen würde und selbst das hielt sie keinesfalls für sicher, immerhin hatte sie die Information von einem verpickelten, betrunkenen Landei erhalten, das gerade dabei war, seinen Großeltern zu beweisen, daß es im Bereich des Menschenmöglichen liegt, drei Hühnereier auf einmal in den Mund zu nehmen, ohne sie zu zerbrechen.
Sie würde nächtliche Überlandbusse immer mit dem übelkeitserregenden Anblick schleimigen Eigelbs verbinden, das ihr entgegenrast, da war sie sich ganz sicher.
Warum in alles in der Welt hatte sie sich nur von ihrer Mutter zu einem geselligen Abend allein mit ihren gleichaltrigen Verwandten vom Lande überreden lassen? In der Dorf-Disco hatten sich mehr mehr Tiere als Menschen eingefunden und als die Scheune zu schaukeln begann, hatte Hannahs Gehirn gnädigerweise ausgesetzt.. Von den Ereignissen des Abends blieb nur der bittere Nachgeschmack zyklopischer Peinlichkeiten.
Nun saß sie bereits seit einer Stunde an der regennassen Landstraße und betete, diese Nacht möge endlich ein Ende nehmen. Die windschiefe Bushaltestelle war bereits vor Jahren von einem Gebüsch erobert worden und im Inneren sammelten sich Berge trockenen Laubes, unter denen Hannah schlafende Bären vermutete. Hannah seufzte. Wenigstens funktionierte die rostige Lampe, die an einem Baumstamm hinter der Bushalte verschraubt war und Hannah hoffen machte, daß dieser gottverlassene Ort überhaupt noch von einer Buslinie angefahren wurde. So saß sie auf ihrer Insel des Glühbirnenscheins inmitten eines Meeres aus Regen und Finsternis.
Hannah summte vorsichtig vor sich hin. Sie hatte bereits seit einigen Minuten „Whiskey in the Jar“ gesummt, als sie plötzlich verstummte. War da ein Geräusch gewesen um das sie sich in irgendeiner Form Sorgen machen müßte? Waren das kämpfende Eichhörnchen oder ein stolzer Fasan, der nächtens durch das Unterholz stolzierte? Oder war es der Typ mit den Eiern im Mund der sich nach einem rostigen Eimer Jägermeister an ihre Buslinie erinnert hatte und der sich jetzt Händchen haltend mit seinem besten Freund auf die Suche nach der großen Liebe machte?
Hannah schlug ihren Kragen höher und stand lautlos auf, um ihre kalten Beine aufzuwecken. Ihre Schwimmweste hielt sie ausreichend warm, solange sie im trockenen blieb. Sie zog den Schirm ihrer Kappe tiefer ins Gesicht und lehnte sich vorsichtig an den Windschutz der Bushaltestelle. Hannah lauschte rechterhand in die Nacht, halb ins imperialistische Gebüsch gebeugt, und versuchte festzustellen, woher das geheimnisvolle Geräusch gekommen war.
Da war es!
Hannahs Augen weiteten sich. Sie konnte deutlich ein Atmen hören. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Wurde sie etwa beobachtet? Wurde sie durch ein Loch in der blechernen Bushaltestellenwand angestarrt? Instinktiv ging das Mädchen hinter dem bauchhohen Gebüsch in Deckung und kniete sich ins trockene Laub. Das Atmen wurde lauter und schneller. Etwas würde geschehen.
Sie schreckte auf, hielt sich aber rechtzeitig die Hand vor den Mund, als etwas um die Ecke in den Lichtkegel der Haltestelle stürzte.
Das Etwas war ein alter Mann, der eine vermatschte Latzhose und ein kariertes Hemd trug. Der Mann stolperte und landete keuchend in einer großen Pfütze vor der Haltestelle.
Hannah kniff die Augen zusammen und erkannt aufkeimendes Entsetzen im Gesicht des Alten, der vor sich in die Finsternis starrte und brabbelte.
“Dat kann gar nich’ angehn. Dat kann gar nich’ angehn.“
Dann kam etwas anderes aus der Nacht. Aus der Haltestelle konnte Hannah nicht erkennen was es war, aber diesmal kündigte es sich nicht durch ein Atmen an sondern durch ein gewaltiges Schnaufen. Der Boden begann zu erzittern. Der alte Mann rutschte schreiend im Krebsgang durch die Pfütze. Er sah was aus der Dunkelheit herbeigeeilt kam. Hannah biss die Zähne zusammen. In genau diesem Moment raste etwas Kolossales in den funzeligen Lichtkegel der Haltestellenbeleuchtung, dampfend und schwarz und weiß im kalten Regen. Das Wasauchimmereswar ergriff den schreienden, alten Mann und dann verschwand alles schnaufend in der Dunkelheit. Irgendwo in er Ferne der Nacht durchbrach es einen Knick und dann Stille.
Das Mädchen stolperte zuück in die Finsternis der Haltestelle. Was zum Teufel hatte sie da gerade gesehen? Sie japste nach Luft und sah aus wie jemand der verzweifelt darum bemüht war, Fragezeichen zu verkaufen. Sie schloss kurz die Augen und entsandte instinktiv ein Stoßgebet bevor sie sich dazu entschloss, daß es für’s erste die beste Strategie wäre, mucksmäuschestill zu sein. Ihre Gedanken rasten, kamen aber zu einem jähen Stillstand, als sie bemerkte, daß das Etwas sich erneut der Haltestelle näherte. Es war hinter ihr, und zwischen ihr und dem da draussen lag nur die dünne Blechwand an der sie mit dem Rücken gelehnt kauerte. Sie hörte das tiefe Schnaufen und ein nasses, schweres Rumpeln, dem sich ein schmerzvolles Röcheln anschloß. Das Etwas hatte den Mann abgelegt. Hannahs Gesichtsfarbe packte ihr Koffer und verzog sich in ihren Unterleib, der heftig gegen das Geschehen revoltierte. Nach dem zu urteilen, was an Geräuschen zu ihr drang, musste er bereits schwer aus dem Leim geraten sein. Hannah hörte ein kurzes Stöhnen und ein vollkommen weggetretenes „Wo bin ich?“ das mit einem feuchten Schnaufen beantwortet wurde, auf welches ein entsetztes Kreischen folgte, das schliesslich nach endlosen Sekunden in einem bestialischen Gekaue und Geschmatze erstarb. Körperteile flogen beim wilden und monströsen Nachtmahl gegeg die Blechwand und Hannah biss erneut die Zähne zusammen während sie einen Stoß nach dem nächsten durch die Blechwand hindurch kassierte. Sie flehte leise, daß das schreckliche Etwas endlich verschwinden sollte als sie plötzlich von einem ohrenbetäubenden Urschrei erfasst wurde.Ein grollendes, gutturales, anschwellendes, zähnebleckendes MUH!
Hannah blinzelte. Ein zähnebleckendes Muh? Das Etwas stapfte mächtig um die hintere Ecke der Bushaltestelle und dellte dabei mit seiner Flanke das Blech ein. Hannah starrte aus den Schatten der Haltestelle heraus. In den schwachen Schein der Glühbirne trat etwas, das aussah wie eine blutverschmierte Kuh. Sie trottete einige Schritte vor die Haltestelle, sah sich blizelnd um und senkte dann ihre dampfende, bluttriefende Schnauze hinab, um sich an der Regenpfütze zu erfrischen..
Für einige Minuten beobachte Hannah geistesabwesend die Kuh die Pfütze austrinken und dann, völlig unerwartet, trafen sich ihre Blicke. Das Mädchen schluckte während die Kuh sie mit stechenden Augen registrierte. Die Kuh machte einen Schritt auf sie zu und schnaubte verächtlich, und dann bedeutete sie dem Menschen mit einer unmissverständlichen Bewegung ihrer breiten, rosa Schnauze aus der Haltestelle heraus ins Licht zu treten.
Weil Hannah wußte, daß es in bedrohlichen Situationen immer gefährlich ist, die Heldin zu spielen und weil sie sich nicht entsinnen konnte, jemals ein Rind bewußtlos geschlagen zu haben (obwohl es da irgendeinen Film gab), fügte sie sich ihrem Schicksal und trat vorsichtig vor die Kuh. Diese machte einen weiteren Schritt auf das Mädchen zu und begann, sie unziemlich abzuschnüffeln. Sie schob ihren breiten Riechkolben über ihre Arme, ihren Vorbau und schnüffelte an ihrer Jeans. Dann leckte sich die Kuh mit ihrer rosa Zunge genießerisch über ihr gelbes Gebiss und stiess Hannah unwirsch an bis diese zögernd vor der Kuh in die Nacht hinaus trabte, die Nase der fleischfressenden Kuh in ihrem Rücken.Nach etwa zwanzig Minuten kalter Nachtwanderung schubste die Kuh Hannah durch ein Gatter auf eine weite Koppel. Der Schlamm zoh an Hannahs Stiefeln und sie hatte den Eindruck, Mutter Natur wolle sie bereits in ein nasses Grab saugen um ihr die Qualen zu ersparen, die ihr das monströse Rind in dieser Nach noch bereiten würde. Sie fluchte laut, während sie die Füße aus dem vermalledeiten Schlamm zog. Plötzlich spürte sie wieder die schnauze der Kuh an ihrem Hintern und eh sie sich versah, saß sie auf dem breiten nacken der menschenvertilgenden Schwarz-Weiß-Kuh, die bedächtig weiter die koppel hinauf zog.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen und hinter der Wolkendecke zeigte sich ein runder, silberner Kond. Die Kuh blieb stehen, schmatzte andächtig und muhte im Schein des Mondes. Zu Hannahs Furcht gesellte sich nun Ehrfurcht, unterstrichen durch einen Schwarm Krähen, der sich wie eine Antwort auf das majestätische Muh krächzend aus einem nahen Wäldchen in den Himmel erhob.
“Ist es vorbei?“, klang eine verquere, heiserne Stimme hinter ihnen.
Bevor Hannah antworten konnte, muhte die Kuh und wandte sich um. Eine breitschultrige Gestalt, die einen langen Mantel mit weiter Regenkapuze trug, zeichnete sich vor dem bleiernen Himmel ab und funkelte regennass im Licht des Mondes. Die Kuh gab einige Laute von sich bevor sie sich daran machte, der fremden Gestalt die Hand zu lecken. Die Gestalt senkte ihr haupt, so daß ihr die Kapuze noch tiefer über das Gesicht fiel.
“Lass sie absteigen.“, quäkte es hinter Kapuze.
Die Kuh ließ das Mädchen von ihrem Rücken rutschen, so daß sie dem Fremden gegenüberstand. Dieser wandte sich von ihr ab, erhob jedoch seine Stimme, während er der Kuh sanft über den Hals streichelte.
“Dies ist das Ende einer langen Geschichte des Leides und der Qual und vielleicht ist es angemessen daß der letzte Akt dieser grotesken Tragödie in menschlichem Blut geschrieben wird.“Hannah trat einen Schritt zurück. Die Kapuze wandte sich ihr leicht zu, während die Gestalt neben der Kuh verharrte.
„Habe keine Angst. Es tut mir Leid, daß du es mit ansehen mußtest.“
Der Fremde streichelte sanft die Schnauze der Kuh.
“Nun sind wir selbst zu Schlächtern geworden, Klarabella.“
Die Kuh rülpste und leckte sich ihre Schnauze.
“Wer war der alte Mann?“, fragte Hannah stur.
Ein verächtliches Schnaufen drang unter der Kapuze hervor.
“Das war mein Vater, ein grausamer Mensch. Er lebte ein Leben in nackter Fleischeslust wider die Natur. Ein Leben daß wir beenden mußten.“
“Was ist mit der Kuh?“„Klarabella ist… meine Schwester.“
Der Fremde senkte sein Haupt und starrte auf seine stoppeligen Hände.
“Ich will dich nicht festhalten, es steht dir frei zu gehen! Ich denke, Klarabella wollte dich nur beschützen, nicht wahr, Klarabella?“
Die Kuh leckte sich die Lippen und rülpste.
“Sie wird dich zurückbringen, verlass dich auf sie!“Die Kuh, die noch vor wenigen Minuten einen alten Mann gefressen hatte, rieb ihren Kopf an Hannahs Schulter. Das Mädchen stieg auf und dann trottete die Kuh langsam von der Koppel, zurück zur Landstraße.
Ein oranger Schimmer erstrahlte hinter den schwarzen Baumwipfel des nahen Waldes. Bald hatte die Kuh die Koppel hinter sich zurückgelassen und bald sah Hannah, was es war:
Ein Bauernhof stand in hellen Flammen, die weit über den Dachfirst hinaus in die Nacht loderten. Langsam trotteten Mädchen und Kuh neben dem funkensrühendem Spektakel entlang, als plötzlich die Tore der Stallungen aufbrachen und sich Dutzende von Rindern in einer donnernden, muhenden Stampede über den Hof ergossen. Ein episches Bild von Rind und Feuer und inmitten des Feuers erschien eine dunkle Gestalt, die ihren langen Regenmantel wie einen Umhang trug und ihr gehörntes Haupt mit der breiten Nase den Flammen zuwandte, während sich die Rinder um sie scharten..„Vater ist tot und wir sind frei, meine Schwestern. Lange genug hat sich unsere Rasse den Menschen untertan gemacht. Jetzt beginnt das Zeitalter der Freiheit. Wir haben ihre grösste Waffe gegen sie gerichtet: ihren masslosen Hunger!“
Die Gestalt kratzte sich am Euter und muhte markerschütternd in die Nacht hinaus. Auch die Kuh auf der Hannah ritt muhte den Worten des Kuhmenschen ihren Beifall, während sie sich immer weiter von de brennenden Bauernhof entfernten.Hannah, die während des Seelenstrips des Eutermannes die Zähne zusammengebissen hatte, atmete verzweifelt aus. Gab es irgendeine Peinlichkeit, die ihr an diesem Abend erspart blieb? Und gab es, rein technisch gesehen, eigentlich einen Eutermann? All das war ihr ungeheuer unangenehm. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
„Mann, was bin ich froh wenn ich wieder zu hause bin!“, sagte Hannah entschlossen.
“Und ich erst!“, pflichtete ihr die Kuh bei und leckte sich einmal mehr appetitvoll ihre rosa Schnauze.Ende.
“Der Spökenkieker” auf Weird Fiction
11. Dezember 2007 @ 12:28
[…] junges Mädchen aus der Stadt zu einem Alptraum der abstrusen Art. Sebastian Kempkes Kurzgeschichte “Moin Moin Mutanten” geht auf keine […]