„Mitternachtsvorstellung auf dem Kutter der Kuriositäten“ von Dirk M. Jürgens
In der Kurzgeschichte „Mitternachtsvorstellung auf dem Kutter der Kuriositäten“ nimmt uns Dirk M. Jürgens mit auf eine Nachtfahrt auf die Nordsee, wo ein unheimlicher Mann auf eine Sondervorstellung wartet, für die er bereit war, mit dem Leben zu zahlen!
(Copyright 2005)
Seit sie abgelegt hatten, war die blasse Gestalt nicht von ihrem Platz an der Reling gewichen, von wo aus sie reglos auf die dunkle See hinausgestarrt hatte. Ole sollte es recht sein. Zwar pflegte er normalerweise mit seinen Passagieren zu schwatzen, doch Drower hatte genug bezahlt, um sich zusätzlich zu der Rundfahrt noch seine Ruhe zu erkaufen.
Abgesehen davon erschien ihm der schräge Vogel von Anfang an höchst seltsam: Um elf Uhr Abends hatte er ihn aus der Koje geholt, um sofort eine Fahrt mit dem „Kuriositätenkutter“ zu buchen, der Ole nach Feierabend als Hausboot diente. Auch wenn er davon lebte, Touristen bei kleinen Rundfahrten durch das kleine Museum im Rumpf des Schiffes zu führen, hätte er den kränklich wirkenden Mann normalerweise ob der nachtschlafenden Zeit zum Teufel geschickt, doch noch bevor er dazu ansetzen konnte, hatte dieser ihn mit einer Handvoll Münzen davon überzeugt, dass das Zustandekommen eines Geschäftes doch lohnender wäre.
Ole reichte ein kurzer Blick auf den kleinen Haufen Geldstücke, die ihm der Mann, der sich als Drower vorgestellt hatte, zusammen mit seinem Angebot vorlegte um zu erkennen, dass es samt und sonders uralte Münzen von wahrscheinlich beträchtlichem Wert handelte, auf einer prangte gar das Bild des Kaisers Caligula. Er zögerte kurz und erwog die naheliegende Möglichkeit, sie könnten von einem Museumsdiebstahl stammen, doch als Drower sein Zögern offenbar falsch interpretierte und noch einmal etwa die gleiche Menge Münzen dazu legte, erschien es ihm das Risiko wert – eine halbe Stunde später waren sie auf See.
Es war schon seit langem Oles Methode gewesen, seine schwimmende Kuriositätenshow nur draußen auf dem offenen Meer zu präsentieren. Das Schwanken des Schiffes und die Desorientierung durch das von Horizont zu Horizont reichende Wasser genügten oft schon, seinen Besuchern den Blick der kritischen Moderne zu trüben und sie wieder empfänglich zu machen für das Unheimliche vergangener Zeiten.
Für seinen heutigen Gast würde er sich wohl nicht viel Mühe geben: Drowers teigiges Gesicht mit den fiebrigen müden Augen, seine ungesund weißliche Haut und seine ungelenk steifen Bewegungen ließen ihn an Bord eines Schiffes deplaziert wirken. Er hätte lieber das Bett hüten sollen, anstatt ein Vermögen für eine Museumsbesichtigung auszugeben, von der er in seinem Zustand vermutlich eh nicht viel mitbekommen würde.
Die Lichter der Küste waren längst im Dunkel der Nacht verschwunden, so dass Ole den Motor abstellte und den Anker warf – es war Zeit für die Show!
„Herr Drower?“ riss er die bleiche Figur aus ihrem Starren. „Es ist auch so weit, wir können mit der Führung beginnen.“
„Ja…“ hauchte dieser heiser, „Ich denke, wir sind weit genug draußen…fangen wir an.“
Da die Ausmaße des Laderaums sehr begrenzt waren, hatte sich Ole bei der Ausstattung seines Kuriositätenkabinetts alle Mühe gegeben: Vorhänge, Stellwände und nur wenige rötliche Lichtquellen schufen eine unwirkliche Atmosphäre und verstärkten so die Wirkung der wenigen Ausstellungsstücke.
Derer erstes war ein einfaches Stück Brett – etwa einen halben Meter lang und mit Algen, sowie langen, zittrigen Kratzern bedeckt. Davor lagen auf einem Kissen zwei fingerlange krumme Zähne.
„Was sie hier sehen…“ tönte Ole feierlich „…ist das einzige erhaltene Stück des einstmals stolzen Fischerbootes ‚Titania’, das in einer stürmischen Nacht vor drei Jahren mit Mann und Maus verschwand. Nur dieses kleine Stück vom Rumpf wurde ein paar Tage später angeschwemmt, die Zähne, die damals noch darin steckten, konnten bis heute keinem bekannten Fisch zugeordnet werden.“
Obwohl Drowers flatternde Lider den Eindruck erweckten, er würde all seine Kraft im Momentan dafür aufwenden, um bei Bewusstsein zu bleiben, führte ihn Ole zum nächsten Ausstellungsstück, einer Kupferplatte, in die mehrere Figuren eingraviert waren, die sich vor einem Mann mit dem Unterleib eines Fisches verneigten. Er würde hier doch keine halbherzige Show abziehen, nur, weil sein Kunde sie offenbar nicht zu schätzen wusste.
„Diese Tafel hier ist von einem solchen wissenschaftlichen Wert, dass sie eigentlich in einem kulturgeschichtlichen Museum liegen müsste. Niemand weiß genau, was das Bild bedeutet. Ist es lediglich die Darstellung eines Wassermannes? Stammt sie von einer römischen Galeere und zeigt den Meeresgott Neptun? Oder ist sie der Beweis für die Theorie, dass die Philister – das seefahrende Volk, von dem im Alten Testament geschrieben wird – ursprünglich aus dem Norden Europas stammen und zeigt ihren schaurigen Götzen Dagon? Wir werden es wohl nie erfahren.“
Erst jetzt, in der Enge des umfunktionierten Laderaums nahm Ole den strengen Geruch wahr, den Drower ausströmte. War es nur Schweiß und Krankheit, wie sein Äußeres vermuten ließ? Er war sich nicht sicher, er kam ihm aber bekannt vor.
„Doch kommen wir nun zum Höhepunkt unserer kleinen Ausstellung.“ Fuhr er dennoch unbeirrt fort und trat an ein, mit einem Tuch verhülltes Aquarium, welches er geleert hatte und nun als Vitrine benutzte.
„Was Sie jetzt sehen werden, wird Ihr Bewusstsein verändern und alles in Frage stellen, was Sie zu wissen glaubten!“ Den Spruch hatte er aus dem Vorspann irgendeiner Fernsehserie übernommen, er fand ihn äußerst passend und dem einzigen wirklich aufregenden Stück seiner Sammlung angemessen. Und es war in der Tat so, dass viele seiner Besucher davon so mitgenommen wurden, dass ihnen die Armseligkeit der weiteren Exponate (die Phantomzeichnung, sowie ein paar verschwommene Fotos eines Seeungeheuers und ein ausgestopfter Krake, der angeblich überdimensional groß sein sollte) nicht weiter auffiel.
„Sie werden zweifeln, da Sie sicher schon von entsprechenden Fälschungen gehört haben, aber ich versichere Ihnen, dass ich das folgende Stück selber am Strand gefunden und mit eigenen Händen präpariert habe. Sehen Sie. . .die Meerjungfrau!“
Beim letzten Wort zog er mit dramatischer Geste das Tuch von der Vitrine und präsentierte im Inneren eine bräunliche Gestalt von etwa einem Meter Länge. Der Anblick riss selbst Drower aus seinem phlegmatischen Starren: wie auf dem Kupferrelief eben war der Unterleib der mumifizierten Figur die Flosse eines Fisches, der Oberkörper jedoch der eines Menschen. Einer Frau, um genau zu sein: obwohl die Haut von der unsachgemäßen Präparation braun, schrumpelig und rissig geworden war, waren deutliche Ansätze von Brüsten zu erkennen. Die langen, vertrockneten Haare glichen schmutziger alter Wolle, das Gesicht mit den zugekniffenen Augen war zu einer starren Fratze verzogen, deren großer offen stehender Mund den Blick auf zwei Reihen spitzer raubfischgleicher Zähne freigab.
Erfreut über Drowers plötzliches Interesse, rückte Ole trotz dessen strengen Geruchs näher an ihn heran und raunte ihm seinen weiteren Text ins Ohr:
„Staunen Sie über den letzten und unwiderlegbaren Beweis der alten Mythen. Die Nixe, die Seejungfrau, Figur zahlloser Sagen und Märchen ist real. Und Sie sind einer der wenigen, die an diesem Geheimnis teilhaben.“
Drowers Reaktion glich sein bisheriges Desinteresse mehr als aus; seine Augen glänzten, sein Atem war schwer geworden und seine Hände hatten zu zittern begonnen. Er war nun zweifellos auch bereit für den Riesenkraken!
Doch kaum machte Ole Anstalten, das Tuch zurück über die Vitrine zu legen, da sprang Drower vor und umfasste das ehemalige Aquarium mit beiden Armen.
„Nein, nicht!“ rief Ole. „Sie dürfen die Nixe nicht anfassen!“
Doch der andere ignorierte ihn, hob den Glaskasten hoch und ließ ihn achtlos zu Boden fallen, wo er zerbrach. Der beißende Formaldehydgeruch der Mumie verband sich mit dem Drowers.
Vor seinem geistigen Auge sah Ole die wertvolle Leiche schon unter den groben Pranken des Spinners zerbröseln, weshalb er alle Zurückhaltung fahren ließ, ihn an der Schulter packte und zurückriss – oder besser gesagt, es versuchte.
Schon das mühelose Aufheben der schweren Vitrine hätte ihn warnen müssen, dass Drower über größere Kräfte gebot, als seiner kränkliche Erscheinung vermuten ließ. So lernte er diese Lektion auf dem harten Weg, als er durch den halben Raum geschleudert wurde und heftig gegen eine der Stellwände prallte.
Während er sich mühsam aufrappelte, sah er, wie Drower die Nixe vorsichtig in seine Arme bettete. Langsam und so behutsam, als würde er ein kleines Kind tragen, stieg er mit ihr die Stufen zum Oberdeck hinauf.
Was immer er vorhatte, es ging hier um die einzige wirkliche Attraktion des „Kuriositäten Kutters“ und die galt es dringend zu schützen! Obwohl seine Knie, die Hüfte und auch die linke Schulter vom Aufprall und Sturz furchtbar schmerzten, kämpfte sich Ole auf die Beine und stieg ihm mühsam hinterher. Und wenn er selber in Stücke fiel, er würde seine Nixe bis zum letzten verteidigen!
Als wären die Schmerzen nicht schlimm genug des Übels, war auch die eben noch so stille See auf einmal unruhig geworden. Ja, der Kutter schien nahezu von einem Sturm geschüttelt zu werden, mächtige Wellen schlugen an den Rumpf und Ole hatte Mühe, die Treppe nicht direkt wieder herunterzufallen.
Durch das Heulen des Windes hörte er von oben Drowers Stimme. Er rief etwas, doch Ole vermochte nicht ein Wort zu verstehen.
Endlich an Deck angekommen, sah Ole den, allem Anschein nach Wahnsinnigen an der Reling stehen; den ausgetrockneten Körper an sich pressend rief er auf die geschüttelte See hinaus.
Nun verstand Ole seine Worte auch: „Komm! Ich habe, was du willst!“
Mit wem auch immer der Spinner zu sprechen glaubte, er drehte ihm den Rücken zu und schien ihn überhaupt nicht mehr zu beachten. Das konnte Oles Chance sein – wenn er sich ihm unbemerkt nähern könnte, könnte er ihn vielleicht überrumpeln können. Es bestand dabei zwar die Gefahr, dass auch die Mumie zu Schaden kommen könnte, aber das Risiko musste er eingehen.
Er hatte die Strecke zu Drower noch nicht halb zurückgelegt, als etwas geschah, das ihn alle Pläne vergessen ließ.
Etwas tauchte auf.
Und es war das größte Etwas, das Ole je gesehen hatte. Meter über Meter erhob sich der gewaltige Leib aus dem Wasser und beugte sich über das Deck des kleinen Kutters.
Es war die Seeschlange.
Der Inbegriff allen Schreckens, den die Menschen seit Urzeiten in den Tiefen der Ozeane vermutet hatten, eine uralte Erinnerung, die sich unauslöschlich in da kollektive Unterbewusstsein des Homo Sapiens gebrannt hatte. Ihr vielfach gehörnter, krokodilsgleicher Schädel hatte die Größe eines PKW, ihre Augen funkelten in einem bösartigen Gelb, als sie sich zur zwergenhaften Gestalt Drowers herabsenkte und den winzigen Menschen anstarrte.
Ole spürte, wie seine Knie weich wurden und sich seine Blase entleerte, als der Schatten der titanischen Kreatur auf ihn fiel.
Nicht so Drower. Er hob die Mumie hoch über den Kopf und streckte sie dem Ungeheuer entgegen.
„Ich habe meinen Teil erfüllt.“ Rief er. „Hier ist deine Tochter, nun gib mir endlich meinen Frieden!“
Daraufhin schleuderte er den verkrümmten Körper mit allem Schwung über die Reling hinaus in die aufgewühlte See, der titanische Kopf des Ungeheuer folgte ihm mit dem Blick. Dann öffnete die Kreatur ihren gewaltigen Schlund und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Ein urweltlicher Schrei, wie er seit Äonen schon nicht mehr auf Erden ertönen sollte, von einem Schmerz erfüllt, wie ihn die kurze Lebensspanne eines Menschen zu entwickeln nie in der Lage gewesen wäre.
Noch bevor er verklungen war, warf sie ihren gigantischen Körper nach hinten und verschwand wieder in den lichtlosen Tiefen der See, die sie so lange verborgen hatten. Wie ihr Erscheinen, peitschte auch ihr Abtauchen die Wassermassen zu einem brodelnden Inferno herauf, welches den kleinen Kutter beinahe ebenso verschlungen hatte, wie den Körper des Ungeheuers. Von Unglauben, fassungslosem Entsetzen und dem Toben der Elemente überwältigt, stürzte Ole zu Boden, auch Drower kippte um und schlug ohne einen Versuch, seinen Fall abzufangen auf das Deck, wo er reglos liegen blieb.
Nach wenigen Minuten hatte sich die See wieder beruhigt und strahlte eine Stille aus, von der niemand glauben würde, welch vorzeitlichen Leviathan sie verbarg.
Ole robbte herüber zu Drower, der sich noch immer nicht bewegt hatte.
Als er ihn umdrehte, wusste er, wieso.
Auch wusste er, woher er seinen Geruch kannte.
Der von Verwesung zerfressene Leichnam, der in Drowers Mantel gehüllt vor ihm auf dem Deck lag, musste schon seit mindestens einem Monat im Wasser gelegen haben.
“Der Spökenkieker” auf Weird Fiction
11. Dezember 2007 @ 12:26
[…] In den kalten Nebeln lebt die Legende einer versunkenen Stadt wieder auf. In der Kurzgeschichte “Mitternachtsvorstellung auf dem Kutter der Kuriositäten” nimmt uns Dirk M. Jürgens mit auf eine Nachtfahrt auf die Nordsee, wo ein unheimlicher Mann auf […]