„Die neuen Nachbarn“ von Dirk M. Jürgens
Familie Quorczek staunt nicht schlecht, als sich ein neuer Mieter für das alte Schloß jenseits des Dorfes ankündigt. Das bringt nicht nur den Hausfrieden aus dem Gleichgewicht sondern auch viel Arbeit für den gestressten Vater und seine Kollegen vom lokalen Lynchmob. Eine Kurzgeschichte von Dirk M. Jürgens.
Karl Quorczek kam gerade von der allfreitaglich stattfinden Übung des lokalen Lynchmobs, als ihn die Neuigkeit ereilte: Jemand hatte das alte Schloss auf dem Berg gekauft!
Er war gerade erst hereingekommen, hatte seine Heugabel an die Wand gelehnt, den linken Stiefel ausgezogen und begonnen, auch den rechten abzulegen, als ihm seine Frau Berta die Nachricht überbrachte.
„Was denn?“ vergewisserte er sich und unterbrach dabei das Stiefelausziehen. „Schon wieder?“
„Ich hab auch erst gedacht, das kann ja wohl nicht wahr sein.“ Bestätigte jedoch sein holdes Eheweib. „Aber Frau Hunczek war sicher. Sie hat gesagt, auf dem Schreibtisch vom Herrn Notar – du weißt ja, sie macht ja immer sauber bei ihm, nicht? – hat sie ganz deutlich einen Kaufvertrag für das Schloss liegen gesehen. Und der war schon unterschrieben!“
Aufseufzend lehnte sich Quorczek gegen den Geschirrschrank und entfernte nun auch den zweiten Stiefel von seinem Fuß. Er hatte gehofft, nach dem Tod des alten Grafen würde endlich etwas Ruhe einkehren, aber daraus würde wohl nichts. Es war keine zwei Monate her, dass er mit seinen Kollegen von der aufgebrachten Menge das Schloss gestürmt hatte, um seiner Schreckensherrschaft ein Ende zu bereiten. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie das Herz des Grafen mit einem Pflock durchbohrt wurde und der dämonische Alte zu Staub zerfiel, als die Zeit nach seinem Jahrhunderte dauernden Leben nun endlich doch noch ihren Tribut forderte.
Doch wirklich überrascht war er nicht; die gleiche Hoffnung hatten sie sich gemacht, als sie die Geistermühle niedergebrannt hatten, ebenso, als sie den See der kinderfressenden Nixe trockenlegten.
„Na jedenfalls wissen wir’s rechtzeitig.“ Seufzte er und wandte sich an seine Tochter Inga, die am Esstisch saß und in einer dieser obskuren Zeitschriften blätterte, die sie sich immer aus der Stadt holte.
„Das heißt, du bist bei Dunkelheit im Haus, klar?“
„Ja ja, hier kann man ja eh nirgendwo hin.“ Maulte die Siebzehnjährige zur Antwort, ohne auch nur aufzusehen.
Karl merkte, dass sie darauf aus war, ihm wieder ein Gespräch aufzuzwingen, warum sie denn bitteschön nicht zusammen mit einer Freundin eine Wohnung in der Stadt nehmen durfte, immerhin sei sie kein kleines Kind mehr und auch nicht seine Sklavin und überhaupt und so weiter und so fort und dann würde sie wieder unverschämt werden, er würde ihr wieder eine scheuern und sie würde wieder tagelang beleidigt sein. Nicht heute Abend, beschloss Karl und griff nach seinen eben erst abgelegten Stiefeln.
„Am besten gehe ich noch mal rüber zu Kunze, vielleicht weiß da ja schon einer mehr über unseren neuen Nachbarn.“
Kunze war der örtliche Gastwirt. Weder er noch seine Kunden hatten näheres über die neuen Schlossbewohner gehört, aber man beschloss, vorsichtshalber eine zweite Lynchmob-Übung am Dienstag anzusetzen. Besser, man hielt sich in Form!
***
Am Montag tauchte eine Kolonne von Umzugswagen im Dorf auf. Sie durchfuhren es auf der einzigen Straße von einem Ende zum anderen und hinterließen dabei eine Spur misstrauischer Gesichter, die wie die fleischfarbene Iris eines eckigen Auges an den Fenstern eines jeden Hauses auftauchten.
Berta umklammerte ängstlich die Schulter ihres Mannes, als sie über dieselbe nach draußen sah: „Guck nur mal, wie viele Wagen das sind. Die bringen dem neuen Schlossherren bestimmt lauter Waffen und Folterinstrumente und so ein Zeug, genau wie damals, als dieser Franzose Horla da oben gewohnt hat! Großvater Ibrahim war dabei, als sie das Schloss gestürmt haben, er hat erzählt, sie haben da oben sechsundzwanzig Leichen gefunden! Er meint, ein paar davon muss Horla schon mitgebracht haben, als er kam, und er hat erzählt…“
Während sie wieder in die Erzählroutine verfiel („Ich hab ihn gefragt, wie die Leute wohl alle gestorben sind, aber er sagte, dafür sei ich noch zu jung, ich hab dann aber gelauscht, als er abends mit Großmutter geredet hat und da…“), wandte Quorczek seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.
Gerade fuhr der sechste LKW vorbei.
***
Am Dienstag sollte der neue Nachbar dann endlich sein Gesicht zeigen.
Quorczek und seine Freunde vom Lynchmob waren gerade bei Kunze versammelt, um einen Schluck auf die gelungene Übung zu nehmen, als die Tür aufging und die Stimmung augenblicklich gefrieren ließ. – Wer auch immer da hereinkam, er war unerwünscht. Alle Männer des Dorfes (bis auf den Herrn Notar, aber der kam niemals hierher) waren anwesend, demnach konnte es sich nur entweder um einen Fremdling oder jemandes Ehefrau handeln.
„Guten Abend, die Herren!“
Der Mann war schlank, blond, von unschätzbarem Alter und mit leichter, doch nicht aufdringlich sonnengebräunter Haut. Seine Augenbrauen waren scheinbar gezupft, seine Kleidung die eines Städters, es gab also von vornherein genug Gründe, ihn abzulehnen, so dass es des zusätzlichen, den er gleich aussprechen würde gar nicht bedurft hatte:
„Mein Name ist Franz-Matthias Finkenpflug, ich bin der neue Schlossbesitzer und wollte mich nur mal kurz der Nachbarschaft vorstellen.“
Nach einem unangenehm langen Moment der Stille murmelte Kunze hinter seinem Tresen ein vernuscheltes „N’abend“, wissend, dass ihm niemand diese Fraternisierung mit dem Feind übel nehmen würde, schließlich hatte er als Gastwirt gewisse Verpflichtungen.
Wohl zu unsensibel, die Antwort als bloßes Zugeständnis an die Etikette zu erkennen, fühlte sich Finkenpflug offenbar ermutigt, das Wort direkt an ihn zu richten:
„Sagen Sie, sind Sie der Besitzer dieses Etablissements? Ich frage nur, weil ich häufig Gäste oben im Schloss haben werde und da würde ich mich gerne über die Bewirtungsmöglichkeiten hier vor Ort erkundigen.“
In Übereinstimmung mit der allgemeinen Meinung, empfand Kunze, der Höflichkeit genüge getan zu haben, und beschränkte seine Antwort daher auf ein undifferenziertes Nicken/Kopfschütteln/Achselzucken. Dieses eher minder subtile Zeichen mangelnder Gastfreundschaft verstand auch Finkenpflug, so dass er nach einer genuschelten Bemerkung, dass so etwas wohl nicht zum Service gehöre, danke aber trotzdem, wieder verschwand.
„Ich sag euch…“ tönte der Pfarrer, kaum, dass die Tür hinter dem Doktor ins Schloss gefallen war. „mit dem stimmt irgendwas nicht!“
„Na ja, er sah doch eigentlich recht harmlos aus.“ Warf der junge Schnabuczek ein, der erst seit zwei Wochen beim Lynchmob war und daher die richtige Technik des Misstrauens noch nicht richtig raus hatte.
„Natürlich!“ polterte der Schmied. „Genau wie damals dieser Amerikaner, der sah auch ganz harmlos aus…bis es dann Vollmond wurde! Wir sollen uns den Kerl gleich schnappen, noch bevor er anfangen kann, irgendwas übles zu machen!“
„Ruhig bleiben.“ Beschwichtigte Quorczek. „Wir sind bislang mit allem fertig geworden, wir sollten erst mal abwarten.“
Da es eine kalte Nacht war und es inzwischen sogar zu regnen begonnen hatte, konnte Quorczek die Diskussion für sich entscheiden.
***
Der erste, der von Finkenpflug angekündigten Gäste kam an einem nebligen Mittwochvormittag in einer Limousine mit getönten Scheiben..
Auch dieser Wagen füllte die Fenster der Häuser mit argwöhnischen Gesichtern, die jedoch nichts speziell verdächtiges oder irgendwie besonderes an ihm erkennen konnten, so dass sich das missbilligende Gemurmel auf Allgemeinplätze und Wiederholungen beschränken musste. Neuen Zündstoff erhielt es aber, als kurz darauf der alte Seppl zurückkam, er war im Wald, nahe des Schlosses auf der Jagd gewesen und hatte dabei die Ankunft des Wagens oben am Schloss beobachtet:
„Also der Wagen, nä? Hat dann in der Auffahrt geparkt, war so’n richtiger kleiner Parkplatz. Der feine Herr Doktor erwartet wohl noch mehr Gäste. Na ja, jedenfalls geht dann die Fahrertür auf und heraus kommt ein riesiger, schwarzer Neger. So ein Riesenkerl sag ich euch und schwarz war der…! Der ging dann so um den Wagen rum und macht die Hintertür auf und da steigt `ne Frau aus – also, ich denk mal, dass da `ne Frau war, wegen dem Kleid, nä? – und die hat das ganze Gesicht voller Verbände. Wie die Mumie, die hier vor drei Jahren war!“
Die Geschichte ließ den Grimm der Dörfler neue Höhen erreichen; die Männer ballten bei Kunze wütend die Fäuste über ihrem Bier, die Frauen kamen beim Tratsch im Lebensmittelladen aus dem missbilligenden Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis Finkenpflug sein teuflisches wahres Gesicht zeigen würde, soviel war sicher!
„Ich sag euch, was diese Verbände bedeuten:“ knurrte Quorczek beim Abendessen mit seiner Familie. „Das war eine von diesen gottverdammten Unsichtbaren. Tante Helga hat doch erzählt, dass die sich so verkleiden.“
Bisher hatte Inga nur spöttisch vor sich hingegrinst wenn über die Dinge auf dem Schloss spekuliert wurde, jetzt hielt sie es jedoch nicht länger aus:
„Mensch, Papa – nun steigere dich da doch nicht so rein. Der Doktor ist eigentlich ein ganz netter Kerl und die Frau mit den Ver…“ – „Papperlapapp!“ unterbrach Quorczek grimmig den ungeratenen Spross seiner Lenden. „Netter Kerl! Du tust ja, als wenn du ihn kennst.“
„Na ja, flüchtig kenne ich ihn auch. Ich hab ihn letztens in der Stadt getroffen und wir haben uns so`n bisschen unterhalten. Er…“
„Bist du des Wahnsinns?“ brüllte Quorczek und schnitt ihr mit einer kräftigen Maulschelle das Wort ab. Es gefiel ihm eigentlich nicht, seine Tochter zu schlagen und er tat es auch nur, wenn es nicht anders ging (oder er keine Lust auf eine längere Debatte hatte, ihm die Argumente ausgingen oder er nach einem harten Tag wirklich frustriert war), aber hier ging es schließlich um ihre eigene Sicherheit.
„Du wirst dich in Zukunft von diesem Doktor fernhalten, hast du verstanden? Wenn ich noch einmal so etwas höre, dann geht’s dir aber wirklich schlecht, das verspreche ich dir. Und nun verschwinde auf dein Zimmer!“
Murrend folgte sie seinem Befehl, aber Quorczeks Zorn war noch immer nicht besänftigt.
„Gibt’s denn das?“ klagte er seiner Frau „Da erzählt man dem Mädchen tagein tagaus, wie gefährlich die Schlossbewohner sind, aber kümmert sie das irgendwie?“
Doch Berta gab sich verschnupft: „Na ja, das dürfte wohl auf deine lasche Erziehung zurückgehen, du zeigst Inga ja auch einfach keine Grenzen auf. Hätte Großvater mich in dem Alter erwischt, wie ich mit denen vom Schloss rumhänge, hätte ich `ne Woche nicht mehr sitzen können, aber das ist dem Herrn Quorczek ja zu anstrengend!“
„Schon gut, schon gut.“ Murrte der solchermaßen Kritisierte. „Mach ich ja gleich, ich esse nur noch schnell auf.“
Dabei hatte er eh schon einen harten Tag und Anzeichen eines leichten Muskelkaters, aber was tat man nicht alles für das Wohl seiner Kinder…
***
Ein paar Tage später war Quorczek gerade beim Holzhacken im Hof, als der Klang seines Namens ihn aus der Arbeit riss.
Als er sich umwandte, sah er den alten Seppl völlig außer Atem auf sich zugestolpert kommen. Er hatte sein Jagdgewehr dabei, obwohl er schon ewig nichts mehr geschossen hatte – insofern nicht verwunderlich, als dass seine Vorstellung von Jagd hauptsächlich aus der Beobachtung des Schlosses bestand.
„Quorczek…“ keuchte er noch einmal, während er um Atem rang. „Du…du musst die Männer zusammentrommeln, schnell…Finkenpflug! Er…Inga ist bei ihm auf dem Schloss. Ich hab gesehen…wie sein Neger sie reingebracht hat!“
***
Begünstigt durch den Umstand, mit der Axt ja bereits ein lynchgeeignetes Werkzeug zur Hand zu haben, hatte Quorczek seine Freunde vom Lynchmob in Rekordzeit versammelt. Da es überraschend früh dunkel geworden war (wie übrigens jedes mal, wenn man das Schloss stürmte, doch dieser ungewöhnliche Umstand war bislang niemanden aufgefallen), hatte man Fackeln entzündet und marschierte nun im zügigen Tempo den Berg hinauf. Quorczek sah, wie die Augen des jungen Schnabuczek vor Aufregung leuchteten; der erste Sturm auf das Schloss war eben immer etwas besonderes. Ihm selber fehlte diesmal die rechte Begeisterung – wenn da eigene Fleisch und Blut in Gefahr war, nahm man die Sache doch etwas ernster als sonst.
Am Schloss angekommen, hämmerten sie erst mal gegen das doppelflüglige Tor, auch wenn sie nicht wirklich erwarteten, hereingelassen zu werden (ihnen war klar, dass ihre „Fahr zur Hölle, Finkenpflug!“-Rufe in dieser Hinsicht eher kontraproduktiv waren).
Überraschenderweise öffnete sich jedoch eine kleine Luke im Tor und ein misstrauisches schwarzes Gesicht (welches Seppl als das des Fahrers identifiziert hätte, wäre er nicht am Fuß des Berges einem Herzinfarkt erlegen, was bislang jedoch noch niemand gemerkt hatte) erschien in derselben: „Ja bitte?“
Quorczek ergriff das Wort: „Mach das Tor auf! Wir sind die örtliche aufgebrachte Menge und sind gekommen, um meine Tochter aus dem Klauen des Doktors zu befreien!“
„Wen?“
„Inga Quorczek, meine Tochter. Wir lasse nicht zu, dass er seine gottlosen Experimente an ihr vollzieht!“
„Moment bitte.“ – Das Gesicht verschwand, die Luke schloss sich und die Menge blieb etwas ratlos zurück. Der alte Schnabuczek erklärte seinem Sohn, dass es heute etwas unüblich liefe, normalerweise reagierte niemand auf das Klopfen und das Tor wurde aufgebrochen. Gerade fragte der Junge, wie lange man denn nun warten würde, als sich das Tor öffnete und der gewaltige Schwarze dahinter zum Vorschein kam und eine einladende Handbewegung machte.
„Der Doktor lässt Sie hereinbitten!“
Irritiert und irgendwie ihres Schwunges beraubt, trat die nicht mehr ganz so aufgebrachte Menge in das Foyer – zu ihrer Ehrenrettung sei hier jedoch festgehalten, dass sie sich zumindest den Rest Lyncheifers bewahrten, als dass sie sich nicht die Schuhe abtraten.
„Hat sich hier ja ganz schön verändert.“ Bemerkte der Pfarrer.
Der Schmied pflichtete ihm bei: „Ja, viel heller, liegt wohl an den Tapeten. Die ganzen Topfpflanzen machen wohl auch ziemlich was aus.“
Bevor die – in der Tat enormen – innenarchitektonischen Veränderungen weiter besprochen werden konnten, erschien mit jovialer Geste der Veranlasser selbiger in der Empfangshalle.
„Ah, die Nachbarn! Nett, dass Sie mal vorbeischauen, kann ich Ihnen irgendwas anbieten?“
„Oh ja, das können Sie!“ brüllte Quorczek, entschlossen, sich von seiner aufgesetzten Freundlichkeit nicht einwickeln zu lassen. „Rücken Sie sofort meine Tochter heraus, Sie Wahnsinniger!“
Finkenpflug lachte amüsiert auf: „Ach, jetzt verstehe ich. Keine Sorge, noch ist Ihre Inga ja nicht volljährig, wir wollten nur schon mal ein paar Voruntersuchungen machen.“
Wie aufs Stichwort hin, betrat das Mädchen hinter Finkenpflug den Saal. Die Dörfler keuchten schockiert auf, als sie das Muster gestrichelter Linien sahen, mit dem ihr Gesicht bemalt worden war – offenbar hatte der Doktor sie für irgendein Ritual vorbereitet.
„Inga!“ Quorczeks Stimme gelang es, noch an Lautstärke zu gewinnen. „Was hat dieser Irre dir angetan? Was hat er mit deinem Gesicht gemacht?“
Seufzend verdrehte sie die Augen, die Aufregung ihres Vaters war ihr sichtlich unangenehm: „Natürlich nichts. Er hat doch gesagt, für plastische Operationen bei Minderjährigen braucht er die Einwilligung der Eltern.“Das nahm Quorczek den Wind aus den Segeln: „Plastische…Operationen?“
„Du weißt schon, Schönheitschirurgie! Wir dachten, wir könnten meine Nase nächstes Jahr ein bisschen begradigen, die ist irgendwie schief.“
Nun mischte sich auch der Pfarrer ein: „Wollen Sie sagen, Ihr Schloss ist eine…ein…“
„Schönheitsklinik, genau!“ ergänzte Finkenpflug fröhlich. „Dieser abgelegene Ort ist ideal, besonders für meine prominenteren Patienten: Ruhig, diskret und ohne neugierige Reporter.“
Plötzlich ergab alles einen Sinn, der, nun überhaupt nicht mehr aufgebrachte Menge wurde kollektiv klar, dass Unsichtbarkeit nicht die wahrscheinlichste Möglichkeit dessen war, was die Verbände der geheimnisvollen, vor ein paar Tagen angereisten Dame verbarg.
„Ähm. . .tja dann. . .“ Quorczek war unentschlossen. Die Erklärungen des Doktors waren einleuchtend, eigentlich gab es jetzt keinen Grund mehr, der den Sturm auf das Schloss gerechtfertigt hätte. Andererseits war die aufgebrachte Menge in all den Jahren seit ihrer Gründung noch nie hier oben gewesen, ohne ihre Pflicht zu erfüllen und jemanden zu lynchen.
Ausgerechnet der junge Schnabuczek war es, der die braven Bürger trotz seiner Unerfahrenheit aus dieser Zwickmühle befreite, als er auf einmal einen wütenden Ruf ausstieß: „Hey Moment mal – Sie sind Schönheitschirurg?“
„Ja. . .? Das sagte ich doch bereits, oder?“ antwortete Finkenpflug, nicht weniger überrascht, als die älteren Mitglieder des Lynchmobs.
„Von euch Kerlen hab ich schon gehört!“ ereiferte sich der junge Schnabuczek weiter. „Ihr gebt jungen Frauen ein falsches Selbstbild und wirkt mit an der Schaffung überzogener Schönheitsideale!“
„Das ist wahr!“ brüllte der Pfarrer, der am schnellsten begriffen hatte. „Wegen der Geldgier von Leuten wie Ihnen haben immer mehr Mädchen ein völlig gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper!“
„Genau, täglich verrecken Hunderte von Robben elendig in euren Labors!“ fiel auch der Schmied ein, der zwar das Thema verfehlte, aber den Ton traf.
Überrollt von diese Wende hob Doktor Finkenpflug nervös die Hände.
„Moment…“ begann er sich zu rechtfertigen, wurde jedoch von einem Stein unterbrochen, der ihn an der Schläfe traf – dies war das Signal für den allgemeinen Angriff!
***
Wenige Stunden später saßen die tapferen Männer des namenslosen kleinen Dorfes einmal mehr in Kunzes Gasthof und feierten ihren erneuten Sieg über das Böse.
Sie hatten den Doktor und seinen schurkischen Helfer zur Strecke gebracht und das Schloss in Brand gesetzt. Zwar würde es wie bei den unzähligen vorherigen Versuchen auch diesmal nicht wirklich niederbrennen, aber dennoch war es ein Sieg für die gerechte Sache. – Und diesmal sogar ein ziemlich eindeutiger! Die einzigen Opfer, die ihre Seite zu beklagen hatten waren der alte Seppel und die rechte Hand des Pastors, die ihm der tückische Mohr gebrochen hatte (theoretisch hätte sie allmählich behandelt werden sollen, doch das hatte man mittels einiger Schnäpse auf den Tag nach der Feier verschoben). Mit so geringen Verlusten war kein Sturm auf das Schloss mehr abgelaufen, seit sie damals dem satanischen Rabbiner den Garaus gemacht hatten – dennoch schauderten sie alle noch immer, wenn sie an die geheimnisvollen Bücher in unlesbarer Sprache dachten, die man als Beweis seines finsteren Treibens im Schloss gefunden hatte.
Trotz seiner Freude darüber, fühlte Quorczek auch ein leichtes Bedauern darüber, dass seine Tochter so gänzlich unversehrt befreit worden war. So, ohne jegliche Mitleid erweckenden Spuren eines Martyriums, würde seiner Frau wohl aufgrund Ingas Ungehorsam wieder auf dem Vollzug erzieherischer Maßnahmen bestehen. Na ja, da musste er wohl durch.
Was tat man nicht alles für das Wohl seiner Kinder…
***
„Wirklich ein Wunder, wie wenig das Feuer dem Gebäude hat anhaben können, Herr Ascher. Aber gut, ich denke, dann haben wir auch alle Formalitäten erledigt und es bleibt mir nur noch, Ihnen die Schlüssel zu ihrem neuen Zuhause zu überreichen.“
Der Notar war so eifrig, als müsse er das Erbe des verstorbenen Doktors verkaufen und nicht nur dem Schwager und einzigen lebenden Verwandten Finkenpflugs übereignen. Doch es zweifelhaft, ob der aristokratisch wirkende Mann mit dem dünnen Oberlippenbart wirklich mitbekam, was er sagte. Die meiste Zeit, die er sprach hatte Ascher nur verträumt aus dem Fenster gestarrt, dabei das silberne Medaillon an seinem Hals gestreichelt, und immer wieder das kleine Portrait in seinem Inneren betrachtet, dennoch riss er sich aus seiner Trance, als der Notar die Schlüssel auf den Tisch legte.
„Ich danke Ihnen für Ihre Mühe.“ Hauchte er mit seiner leisen Krächzstimme. „Verzeihen Sie bitte, meine Einsilbigkeit, aber die Reise hat mich erschöpft, außerdem geht es Morella…geht es meiner Frau nicht besonders gut, da möchte ich sie nicht zu lange im Wagen warten lassen.“
Er stand auf, murmelte ein paar Abschiedsworte und verließ schwankend das Arbeitszimmer des Notars.
Stirnrunzelnd sah dieser ihm aus dem Fenster nach, als er seinen großen Wagen mit den getönten Scheiben bestieg und in Richtung des Schlosses losfuhr.
Seine Frau war krank? Seltsam. . .wenn er Finkenpflugs Schwager war, musste diese Morella seine Schwester sein, obwohl es doch hieß, Ascher sei der letzte lebende Verwandte!
Kopfschüttelnd verscheuchte er diese Gedanken, verschloss die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dieser Ascher war eh eine seltsame Gestalt, ganz anders, als sein Schwager.
Er entnahm seiner Schreibtischschublade die kleine Flasche, die ihm dieser bei der Unterzeichnung des Kaufvertrages zum Geschenk gemacht hatte und entkorkte sie.
Als er auch seine Maske abnahm strömte ihm der wohlige Duft menschlichen Fettes entgegen, Finkenpflug hatte es für ihn einer alternden Sopranistin abgezapft.
Die schwarzen Facettenaugen des Notars glänzten genießerisch, als er seinen Rüssel in die Flasche steckte und sich einen kräftigen Schluck genehmigte.