„Das Tor“ von Dirk M. Jürgens
Der Supermarkt funktioniert wie ein Uhrwerk – doch was ist das seltsame Gebilde im Lagerraum? Und was erwartet Marktleiter Körber auf der anderen Seite des geheimnisvollen Tores? (Copyright 2005 Weirdfiction.de)
Der Torbogen war etwas über zwei Meter hoch,
mit verschlungenen Zeichen bedeckt und bestand aus etwas, das schwarzer Stahl zu sein schien. Er war ungefähr rund und nur wenige Zentimeter dick.Und er gehörte definitiv nicht in die Möbelabteilung des „World of Konsum“.
Körber kratzte sich am Kopf und sah zum schätzungsweise sechstem mal in Folge auf sein Klemmbrett. Bisher war die Inventur ohne größere Verwirrungen abgelaufen, doch zwischen veralteten Schränken, unmodischen Sofas und anderen Ladenhütern auf dieses seltsame Stück zu stoßen war etwas, was seiner schlichten Ordnungsliebe über alle Maßen zusetzte.
Er war stets ein Mann ohne große Ansprüche gewesen, nach einem durchschnittlichen Schulabschluss hatte er seine erste Freundin geheiratet und zwei Kinder mit ihr gezeugt. Zwar hatte sie sich seit einiger Zeit von ihm scheiden lassen und ihr einziger Kontakt waren seine Alimentszahlungen an sie und auch seine Kinder verdrehten nur genervt die Augen, wenn er sie irgendwann mal zufällig sah (auf Besuche verzichtete er aus diesem Grund bereits seit längerem), doch alle diese Probleme (wie auch Haarausfall und die, ihn seit einiger Zeit plagenden Rückenschmerzen) verschwanden, wenn er Dinge zählen, sortieren und ordnen konnte.
Nun, wo es in seinem mathematisch und symmetrisch geordneten Zufluchtsort eine Störung gab, schienen all seine anderen Sorgen wieder ungehinderten Zugang zu ihm zu haben. Entschlossen, seine kleine Zahlenwelt zu verteidigen, suchte er den Abteilungsleiter auf – Heilfeld, einen kleinen Mann mit unsteten Blick.
„Sagen Sie, Heilfeld, was in aller Welt ist dieses Metallding da hinten im Lager?“
Schlagartig trat ein schuldbewusster Ausdruck in Heilfelds Augen, wie immer, wenn jemand Vorgesetztes das Wort an ihn richtete.
„Welches Metallding?“
„Na diesen Reifen, diesen großen schwarzen Metallkreis da in der hinterletzten Ecke. Könnte ein Designer-Türrahmen oder so was sein, hat aber weder einen Aufdruck vom Hersteller, noch `ne Artikelnummer oder sonst irgendwas.“
Heilfeld sah sich schnell und gehetzt um, ob irgendeiner der anderen Angestellten, die ringsherum mit dem Zählen beschäftigt waren, etwas gehört hatten und legte Körber eine Hand auf die Schulter.
„Am besten sehe ich `s mir mal selber an!“
Vor Ort wusste er tatsächlich mehr zu berichten: „Sehen Sie nicht, dass es ein Tor ist? Ein wunderbares, kunstvolles Einzelstück!“
Seine Augen hatten ihren Ausdruck zu einer verliebten Verträumtheit gewechselt, die Körber ihm irgendwie gar nicht zugetraut hatte.
„Das mag ja sein, aber wo kommt es her?“
„Das weiß ich selber nicht, als ich hier anfing war es schon da.“Überraschung und Zorn stiegen in Körber auf: „Wollen Sie damit sagen, es ist bei den letzten Inventuren niemanden aufgefallen? Das kann doch nicht angehen!“
„Nein…doch…ach“ Heilfeld war zu routinierter Gehetztheit zurückgekehrt. „Bisher hab ich es immer irgendwo versteckt oder die Leute abgelenkt. Ich dachte…niemand sollte davon wissen, spüren Sie nicht, wie besonders es ist?“
„Nein, ich spüre nichts, ich weiß nur, dass ich die Geschäftleitung informieren muss, dass hier ein Artikel herumsteht, der nirgendwo registriert ist!“
Er wollte schon gehen, doch Heilfeld hielt ihn mit, durch die Verzweiflung überraschend kräftigem Griff zurück.
„Bitte! Geben Sie mir noch eine Chance!“
Er ließ ihn los und schmiegte sein Gesicht gegen den metallenen Rahmen.
„Bitte, lauschen Sie einmal…Lauschen Sie seiner Stimme!“
In der Hoffnung, so diese lästige Angelegenheit endlich zu Ende zu bringen und die Ordnung wieder herzustellen, legte Körber ebenfalls sein Ohr an das Metall.
Und er hörte!
„Durch mich geht man zur Stadt der Schmerzen ein;
durch mich geht man hinein zur ewigen Qual.
Denn vor mir ward kein einzig Ding erschaffen
als Ewiges, und ewig werd` ich dauern;
ihr, die ihr eingeht, lasset alle Hoffnung!“
Körber riss den Kopf von dem schwarzen Ring, sofort, als er die wispernde Stimme hörte, dennoch hatte dieser kurze Moment gereicht, die vollständigen Worte in sein Gehirn zu brennen. Keuchend taumelte er rückwärts, während Heilfeld sich nur langsam und noch immer mit verliebtem Blick von dem Torbogen löste.
„Erkennen Sie jetzt, was für einen Schatz wir hier haben?“ säuselte er „Vor ihm ward kein einzig Ding erschaffen! Wir haben hier das Tor…“
„Zur Hölle, ich habe schon verstanden!“ brüllte Körber. „Mein Gott, warum sind sie so begeistert davon? Dieses Ding ist…ist…falsch! Es ist…Es gehört beim besten Willen nicht hier hin und darum werde ich sofort etwas dagegen unternehmen!“
Wie wohl jeder Mensch neigte auch Körber zu einer leichten Paranoia, weswegen es ihm gewissermaßen als eine Bestätigung all seiner Ahnungen erschienen, dass offenbar die Hölle selber ihre Pforte einsetzte, um seine Inventur und damit sein Leben zu stören. Aber daraus würde nicht, er würde jetzt sofort zur Geschäftsleitung gehen und…“
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihn Heilfelds gedrungene Gestalt überraschend von hinten ansprang und zu Boden stieß.
„Mann, sind sie wahnsinnig?“ brachte er noch hervor, da hatte ihn Heilfeld schon am Kragen gepackt und riss ihn wieder in die Höhe, sein entschlossener Blick ließ Kröger ahnen, was er vorhatte.
„Oh mein Gott…Bitte…Nein!“ stammelte er noch hervor, bevor der andere ihn durch das Höllentor stieß.
Körber verschwand von einem Moment auf den anderen, als sein Leib den schwarzen Ring passierte, Heilfeld prägte sich jede Einzelheit davon so fest er konnte ein. Es war nicht das erste mal, dass er seinem Schatz einen Menschen hatte opfern müssen. Vor ungefähr einem Jahr war da dieser polnische Praktikant, der es gefunden hatte und einfach nicht in der Lage war, seine Schönheit zu erkennen.
Versonnen ging Heilfeld zurück in die Verkaufsräume. Körbers Verschwinden zu erklären würde schwierig werden, aber ihm würde schon etwas einfallen.
Währenddessen schwebte Körber durch nie gekannte Wonnen. Es war, als wären alle seine Sorgen, Ängste, Leiden und Nöte nicht nur beiseite geschoben, auch nicht nur überwunden, sondern als hätten sie nie existiert.
Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo er war, aber eines wusste er sicher: dass man auch das Tor zur Hölle von zwei Seiten durchschreiten konnte.
Und dass es gar nicht so sicher war, auf welcher Seite man sich vorher befand!