“Scarface” von Armitage Trail
„Scarface“ von Armitage Trail (1930)
(dt. Ausgabe/Dumont Noir)Hardboiled/Pulpklassiker
Armitage Trail aka Maurice Coons Roman ist einer der Klassiker, die mich von den Socken reissen, weil ich mit ihnen einfach nicht rechne. Das gründet sich wohl in dem Umstand, dass ich in meiner Schulzeit „jene“ Epoche hauptsächlich über ihre Filmproduktion, nicht über ihre Literatur verfolgt habe. Und Filme, um es etwas lyrisch zu formulieren sind Spiegel, und gerade die grossen Studioproduktionen Hollywoods (es gibt Ausnahmen) scheinen wenig daran interessiert zu sein, tatsächlich das zu reflektieren, was sie zu reflektieren vorgeben. Aber nun zum Roman.
Als erstes Hardboiled-Gangsterdrama strotzt er von unbeschönigter Gewalt und glorifiziertem Gangsterdasein. Er war seiner Zeit weit voraus was die sprachliche Direktheit und die unkonventionellen und „unethischen“ Charakterzüge seines Hauptcharakters Tony „Scarface“ Camonte betrifft, keine Frage!
Bemerkenswert ist nun dass der legendäre Film „Scarface“ von Howard Hawks, weit weniger revolutionär ist (obwohl ich ihn dennoch mag), da er sowohl die Charaktere als auch die Handlung gnadenlos zusammenstreicht. Auch in verwässerter Form war der Film den Amerikanern zu hart und fast 10 Jahre lang verboten. Nach Ansicht einiger Drehbuchautoren war die Vorlage „nur ein wertloser Pulproman“, was ne ziemlich anmaßende Aussage ist, wenn man mit dem Verhunzen von eben dieser Vorlage sein Geld verdient. Und man sich im Nachhinein mit allen Co-Autoren sowie Regisseuren und Produzenten darüber streiten muss, wer die die Idee hatte, George Raft die ganze Zeit mit der Münze rumspielen zu lassen, dann wird wohl klar, dass es kein Wunder ist, dass die Filmgeschichte der Literatur allgemein gesprochen immer noch hinterherhinkt. Nochmal gegen die Stirn schlage ich mir mit der flachen Hand, wenn ich erwähne, dass Al Capone seine „Kollegen“ aufs Hawks Filmset schickte, um sicherzustellen, dass der Film nichts mit ihm zu tun hat, woraufhin er sogar seine eigene Vorabversion zummengeschnibbelt bekam, und in einem sehr persönlichen Gespräch erklärte er, dass seine Männer niemals mit ner Vierteldollar Münze rumschnippen würden, sondern mit ner verdammten goldenen 20 Dollar Münze.
Ich würde jetzt gerne sagen können dass es auf der literarischen Seite des „Scarface“-Phänomens besser abgelaufen wäre, aber Tatsache ist, dass Maurice Coons nach dem Verkauf der Drehbuchrechte (angeblich) nie wieder nüchtern gesehen wurde. Er starb noch vor der Filmpremiere mit nur Ende zwanzig, 300 Pfund schwer in Hut und Pelzmantel, in einem Kinosessel an einem Herzinfarkt. Wenn das keine passende Allegorie auf Hollywood ist, dann weiss ich auch nicht.
Schade umso mehr, dass Brian DePalmas „Scarface“ (1983), der einer meiner Lieblingsfilme ist, sich mehr auf die Filmvorlage denn auf den Roman beruft. Nun, mit dem Oliver Stone Drehbuch kann man auf jeden Fall auch glücklich sein, insbesondere allerdings in der Kombination mit De Palmas Regie und Giorgio Moroders Soundtrack. Ein großartiger Film, soviel ist mal sicher, auch wenn Stones „Tony“ zu einem kubanischen Immigranten wird, zum Ende durch seinen horrenden Koks-Konsum ein weitaus weniger zielstrebiger Mann als der „Tony“ aus dem literarischen Orginal. Wer nur De Palmas Film kennt wird sich wundern, dass „Scarface“ als Roman weit mehr (anachronistisch gesprochen) nach Scorseses „Goodfellas“ und Co. schlägt.
Auch wenn beide Verfilmungen Klassiker sind und ihre eigenen Qualitäten haben, so verdient Maurice Coons‘ Roman immer noch eine werksgetreue Verfilmung… denn aus heutigem Blickwinkel betrachtet ist der literarische „Scarface“ einer der wichtigsten Klassiker der modernen Populärkultur. Der Howard Hawks Film seltsamwerweise auch… genauso wie der Brian DePalma Film. Seltsam, nicht wahr? Eben nur einer „von diesen Pulpromanen“? Keineswegs!! Also, lange rede kurzer Sinn, lest den Roman!!! Wenn es euch geht, wie es mir erging, und ihr denkt ihr hättet mit den beiden Filmen genug Scarface, dann liegt ihr genauso falsch wie ich. SCARFACE IST EIN BUCH! – Sehr empfehlenswert!
Sebastian Kempke