Der moderne Märchenfilm und sein mythologischer Mangel
Schon seit einigen Jahren verfolge ich die Vielzahl von Märchenfilmen, welche die Öffentlich Rechtlichen Sender immer zur Weihnachtszeit produzieren. Weniger, weil ich ein besonderer Märchenfan wäre, sondern mehr, um wenig begeisterter Zeuge einer unerfreulichen Entwicklung zu werden.
Denn, um es gleich brutalstmöglich zu sagen, kaum einer dieser Filme taugt etwas.
Es gibt immer wieder gelungene Details, hier und da ein bekannter Schauspieler, der in einer Rolle überrascht, überzeugende Spezialeffekte oder auch überdurchschnittliche Kameraarbeit. Am Filmhandwerk mangelt es wahrlich nicht. Das Problem sitzt tiefer: Diesen Märchenfilmen fehlt einfach jene tiefere Wahrheit, jene mythologische Stimmigkeit, welche die erfolgreichen Vertreter echter Sagen und Märchen (auch Kunstmärchen) ausmachen. Sie sind seelenlose Industrieprodukte, denen man ihre Herkunft aus inspirationsfreien Schreibstuben jeden Moment anmerkt. Politisch korrekt und modern sind sie Momentaufnahmen unserer Zeit, denen das Überzeitliche, um das es bei diesen alten und oftmals verschrobenen Geschichten geht, vollkommen fehlt.
Teile des Problems gibt es durchaus auch in anderen Genres: Der Historienfilm etwa verdiente seinen Namen noch nie wirklich, aber auch noch wie weniger als heute. Um Held sein zu dürfen, muss jeder Römer die Sklaverei ablehnen, muss jeder Germanenkrieger gewaltfreie Lösungen bevorzugen und jeder Ritter an die Gleichberechtigung aller Menschen glauben. Die historische Epoche wird zumeist nur Lieferant für Kostüme, in denen dann aber nur die Gegenwart inszeniert wird. „Ritter aus Leidenschaft“ mit seinem Queen-Soundtrack und „Inglourious Basterds“, in dem Hitler ein frühzeitiges Ende findet, sind nur die offene und ehrliche Weiterentwicklung dieser Tendenz.
Während diese Kostümfilme aber noch immer als Kriegs- oder Sportfilm funktionieren, hat das Märchen meist wenig zu bieten, nimmt man ihm das, was es auszeichnet.
Was düster, erschreckend oder brutal ist, wird weitläufig umfahren. Dass der Tod des Ungeheuers notwendig, die Strafe der bösen Königin gnadenlos zu sein hat, um den Archetypen zu entsprechen, interessiert niemanden. Lieber möchte man sich seiner positiven modernen Werte rühmen. Das Ergebnis ist zumeist lau und wenig griffig. So entstellt verliert die ursprüngliche Geschichte schnell ihren Reiz und da sie, um auf eine richtige Länge zu kommen, ja eh gestreckt werden muss, geht sie bald in den zahmen neuen Handlungssträngen vollkommen unter.
Gerade dieses Jahr sah ich „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ und fragt man mich, was mit dem Film nicht stimmte, wäre meine erste Antwort, dass da irgendwie das Mädchen mit den Schwefelhölzern fehlte.
Ja, es ist da und darf, zu meiner Überraschung tatsächlich auch erfrieren, aber das ist ein kleines Element unter vielen und wird, kaum, dass es gen Himmel gefahren ist, schnellstmöglich vergessen, um Platz für harmlosere, und positive Dinge zu machen. Schon vorher hielt sich das Leid der Kinder (man entschließt sich hier für ein ganzes Waisenhaus, statt eines einzigen Mädchens) in Grenzen, die der erwachsene Zuschauer erträgt, ein tröstender Engel begleitete die Heldin lange Zeit auf ihrem Weg, doch die Dimension wahren Glaubens, welche diese Geschichte rechtfertigt, fehlt. Andersens Vorlage war deprimierend und ich würde sie Kindern auch nicht zu lesen geben, aber sie war in seinem Weltbild stimmig. Hier darf das Religiöse nicht zu direkt angesprochen werden, um nicht vom Pfad des Lauen zu weichen, auf dem nun einmal kein Platz für einen Gott ist. Ich weiß, dass die Stoffe schon immer modernisiert und angepasst wurden und auch ich bin den Grimms dankbar dafür, dass der Prinz Dornröschen nicht länger wachvergewaltigt. Ich gestehe darum offen ein, dass ich nicht sagen kann, wo die Grenze des Zulässigen liegt.
Es geht mir aber auch nicht darum, Details oder gar einen Härtegrad zu bewahren, sondern die mythologische Dimension – die zuckersüßen Disney-Filme etwa füllen die Lücken, die sie reißen mit der eigenen, der Disney-Mythologie, so dass wieder ein rundes Ganzes herauskommt. Die ARD hat aber nichts vergleichbares anzubieten.
Besagte Zurückhaltung, was das Dunkle angeht, deutet auf ein weiteres Problem hin. Alle der Märchenfilme, die ich die letzten Jahre gesehen habe, versuchen gar nicht, direkt zu den Kindern zu sprechen, sondern nicken über ihre Köpfe hinweg den Eltern zu. Bekannte Schauspieler, die regelmäßig mitwirken, geben sich meist keinerlei Mühe, eine überzeugende Darbietung abzugeben, sondern spielen augenrollend überzogen, als blinzelten sie dem Zuschauer zu: „Das spiele ich nicht wirklich, das mache ich nur für die Kinder – diese Idioten!“. Nie begibt man sich auf Augenhöhe mit der Zielgruppe, sondern gibt ihnen von oben herab das, was man selbst für geeignet hält, nicht, wonach es sie verlangt.
Kinder ertragen mehr Düsterheit und Brutalität als immer wieder angenommen, es ist nicht das Was, sondern das Wie, das entscheidet, wie sie es aufnehmen. Die böse Stiefmutter stirbt einen qualvollen Tod? Recht so! Verständnis für Menschenrechte und Ablehnung der Todesstrafe sollte man in dieser Phase noch nicht voraussetzen, sondern ihre Bedürfnisse akzeptieren. Denn in der Kindheit ist der Draht zur Mythologie noch stärker und die Mythologie ist nicht humanistisch und politisch korrekt. Natürlich wird man ihnen so auch immer wieder etwas präsentieren, was ihnen zu hart ist, doch um solche Missgeschicke zu verhindern darf man doch nicht gleich der ganzen Kunst die Zähne ziehen.
Betrachte man doch nur anerkannte Klassiker, wie etwa Astrid Lindgrens „Ronja Räubertochter“ – darin gibt es jede Menge Dunkelheit und gruselige Dinge, doch Lindgren wusste, was sie tat, weil sie den Kindern auf Augenhöhe begegnete. Wenn die verschiedenen finsteren Kreaturen der Wälder die Heldin bedrängen, nimmt die Autorin ihre Leser ernst und spricht zu ihnen. Kein Wort der Beruhigung gilt ihren Eltern, stattdessen wird die Reise durch die Dunkelheit gemeinsam unternommen, aus der das Kind schließlich gestärkt hervorgehen kann. Nicht, weil man es durch Konfrontation abgehärtet hatte, sondern weil man ihm die Chance gegeben hat, sich selbst an dem papierernen Gegner zu beweisen. Neil Gaimans Meisterwerk „Coraline“ (als Film wie als Buch) sei hier als neuerer Vertreter genannt.
Wer sie nicht kennt sollte zudem unbedingt versuchen Jim Hensons Serie „The Storyteller“ zu sehen, in dem Erzähler John Hurt ein paar Märchen gewissermaßen aus der zweiten Reihe („Der Soldat und die Teufel“, „Hans mein Igel“, „Allerleirauh“… ) erzählt, Humor und Grusel perfekt gemischt und sowohl Zuschauer als auch Stoff ständig vollkommen ernst genommen werden. Zudem ist sein, von Brian Henson gesprochener Hund einer der besten Sidekick-Charaktere überhaupt.
Doch zurück zur Mythologie: Es stimmt, dass vieles, was mythologisch stimmig ist, unvereinbar mit heutigen Werten ist.
So sehr ich J. R. R. Tolkien schätze, kann ich nicht leugnen, dass sein Mittelerde eine archaische und rassistische Welt ist. Seine dunkelhäutigen Orks sind als komplette Spezies böse (selbst die, die wie erwähnt wird, von Sauron zum Kriegsdienst gezwungen werden) und seine hellhäutigen Elben allesamt gut und das Töten in der Schlacht ist ein edler und heroischer Akt. Das sind tatsächlich keine Werte, die in unserer Welt propagiert werden sollten. Doch das tut Tolkien auch nicht: Aufgrund seines Welterfolges, inzwischen auch als Film und Computerspiel vergisst man es leicht, doch sein Werk ist Konzeptkunst.
Hermetisch von unserer Welt abgeschlossen erschuf er einen Kosmos, welcher den echten keltischen und nordischen Mythen entspricht. Und dieses handwerkliche Meisterstück ist ihm tadellos gelungen! Moralische Reibeflächen sind dabei ebenso Teil des Konzept, wie die logischen Probleme in Wagners „Ring des Nibelungen“ (eines absolut vergleichbaren Konzeptes). Sie entsprechen nicht unserer Welt, weil sie nicht in unserer Welt spielen und es auch nicht sollten. Sie finden in jener archaischen Urzeit statt, in welcher Beowulf und Siegfried ihre Ungeheuer töten und der Trojanische Krieg ausgefochten wird. Die Elben sind keine Arier und die Orks keine Afrikaner, ebenso wenig, wie die kulturelle Größe Jesus Christus heute noch wirklich von der Existenz eines jüdischen Zimmermannes von vor zweitausend Jahren abhängig ist. Sie alle leben in ihrer eigenen Traumzeit, welche ein Fundament unseres Denkens ist.
Die Verbindung zu dieser scheint mir zuweilen abzureißen. Die heutigen TV-Märchenfilme zumindest haben sie definitiv nicht. Das mag ein gutes Zeichen sein: Die besten Märchenfilme kommen bekanntlich aus den Ostblockstaaten, wo dieses vermeintlich harmlose Genre Zuflucht bot und der Traum anderer Welten verlockend erschien. In der Freiheit unserer Gesellschaft sind solche Schutzräume vielleicht nicht mehr so wichtig, doch dann sollten wir neue, zeitgemäße Mythen erschaffen, anstatt die alten in Form blutleerer Gespenster zur traurigen Parodie ihrer alten Größe zu stauchen.
(Dirk M. Jürgens)